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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Thomas Rammsayer& Arno Koch* Psychomotorische Leistung bei Down-Syndrom

Vergleich zu Nicht-Behinderten stellt kein methodisches Artefakt der höheren Mittelwerte dar, sondern scheint viel­mehr ein entscheidendes Charakteristi­kum der psychomotorischen Leistung geistig Behinderter zu sein(Baumeister & Kellas 1968b), dem beispielsweise Defizite bei der Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit und Konzentration zu­grunde liegen können. Unter diesem Aspekt kann gefolgert werden, daß so­wohl die GB-Versuchspersonen mit leich­tem, mittlerem oder schwerem Behinde­rungsgrad als auch die DS-Versuchsper­sonen mit leichtem oder mittlerem Be­hinderungsgrad in der Lage sind, ihr op­timales Leistungsniveau sehr viel besser über eine bestimmte Zeit hinweg aufrechtzuhalten als die DS-Versuchs­personen mit schwerem Behinderungs­grad. Somit ergeben sich auch aus den Ergebnissen zur intraindividuellen Va­riabilität Hinweise auf eine sehr viel stärker ausgeprägte psychomotorische Beeinträchtigung der DS-Gruppe mit schwerem Behinderungsgrad im Ver­gleich zu den übrigen Untersuchungs­gruppen.

Eine mögliche Erklärung für das extrem stark ausgeprägte psychomotorische Lei­stungsdefizit der DS-Gruppe mit schwe­rem Behinderungsgrad im Vergleich zu den beiden anderen DS- und insbesonde­re zu der hinsichtlich Alter, Geschlecht und Intelligenzniveau vergleichbaren GB­Gruppe mit schwerem Behinderungsgrad, läßt sich aus neurobiologischen Untersu­chungen zum DS ableiten. Als eine Folge des DS konnte nicht nur ein geringeres Gehirngewicht(Benda 1969; Wisniews­ki, Wisniewski& Wen 1985), ein hypo­plastisches Cerebellum(Crome& Stern 1967; Crome et al. 1966) sowie funktio­nale und morphologische Zellverände­rungen im zentralen Nervensystem(Scott, Becker& Petit 1983) nachgewiesen wer­den, sondern neben zahlreichen anderen neuropathologischen Veränderungen (Übersicht in Nadel 1989), ist bei Men­schen mit DS das Auftreten von senilen Plaques und von degenerativen Verände­rungen der Neurofibrillen, wie sie für die Alzheimer-Krankheit charakteristisch sind, zu beobachten(Mann, Yates& Marcynuik 1985; Wisniewskietal. 1985).

Im Gegensatz zur Alzheimer-Krankheit setzt dieser neuropathologische Prozeß beim DS aber schon sehr viel früher, nämlich im zweiten Lebensjahrzehnt, ein (Burger& Vogel 1973; Wisniewski et al. 1985). Obwohl diese neuropathologi­schen Veränderungen beim DS und bei der Alzheimer-Krankheit morphologisch nicht voll identisch sind(Allsup, Kidd, Landon& Tomlinson 1986), handelt es sich doch um eine vergleichbar massive neuropathologische Veränderung, die für das DS einen ähnlich deutlichen kogniti­ven Leistungsabbau erwarten läßt wie er für die Alzheimer-Krankheit charakteri­stisch ist. Überraschenderweise konnte eine solche kognitive Leistungsvermin­derung bei älteren Menschen mit DS nur in 10% bis 45% aller Fälle belegt werden (Thase, 1989). Diese Tatsache erklärt Thase(1989) mit der Annahme einer höheren pathophysiologischen Schwelle beim DS gegenüber dem Einfluß von senilen Plaques und degenerativen Ver­änderungen der Neurofibrillen im Hin­blick auf die Entwicklung einer Alzhei­mer-ähnlichen Demenz. Betrachtet man unter diesem Aspekt die Ergebnisse der DS-Gruppe mit schwerem Behinderungs­grad, kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich in dieser Gruppe sowohl DS­Versuchspersonen befanden, die schon unter Alzheimer-ähnlicher Demenz lit­ten, als auch Versuchspersonen mit ge­ringer DS-induzierter intellektueller Lei­stungsfähigkeit, deren neuropathologi­schen Veränderungen aber noch unter der pathophysiologischen Schwelle la­gen und deshalb nicht verhaltens-wirk­sam werden konnten. Da die Versuchs­personen in dieser Gruppe zwischen 27 und 52 Jahren alt waren, muß davon aus­gegangen werden, daß alle Versuchsper­sonen bereits Alzheimer-typische neuro­pathologische Veränderungen aufweisen. Ein Zusammenhang zwischen Alter und Testleistung bei der Reaktionszeitauf­gabe ließ sich innerhalb dieser Gruppe jedoch nicht belegen, was nicht verwun­dert, da zwar die neuropathologischen Veränderungen, nicht aber das Auftreten einer Alzheimer-ähnlichen Demenz beim DS als eine Funktion des Lebensalters betrachtet werden kann(Thase 1989). Vergleicht man die Gesamt-Reaktions­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1992

zeiten(Lift-off-Zeit und Ausführungszeit) der einzelnen Versuchspersonen dieser Gruppe, so finden sich vier Versuchsper­sonen mit Reaktionszeiten zwischen 1420 und 1609 ms, die in den Streubereich der entsprechenden GB-Vergleichsgruppe mit Reaktionszeitwerten von 1034 bis 1798 ms fallen, und vier Versuchsperso­nen mit Reaktionszeiten zwischen 2218 und 3495 ms. Diese vier DS-Versuchsper­sonen mit den stark verlängerten Reak­tionszeiten stellen die Ursache für die im Vergleich zu den anderen Gruppen ex­tremen Ergebnisse der DS-Versuchsper­sonen mit schwerem Behinderungsgrad dar. Möglicherweise haben bei diesen vier Versuchspersonen die neuropatho­logischen Veränderungen die pathophy­siologische Schwelle überschritten, was erst zu der starken intellektuellen Beein­trächtigung und den extrem langsamen Reaktionszeiten geführt hat, wohinge­gen die vier Versuchspersonen deren Re­aktionszeiten innerhalb des Streubereichs der entsprechenden GB-Vergleichsgrup­pe lagen, zu denjenigen Menschen mit DS gehören, bei denen das DS originär zu einer überdurchschnittlich stark ausge­prägten intellektuellen Leistungsschwä­che führte, ohne daß neuropathologische Veränderungen schon verhaltenswirksam wurden.

Zunehmend mehr experimentelle Ergeb­nisse weisen darauf hin, daß es sich beim DS nicht um einehomogene Form der geistigen Behinderung handelt, bei der kognitive und psychomotorische Funk­tionen in gleichem Maße beeinträchtigt sind(Wisniewski, Miezejeski& Hill 1989). Vielmehr lassen sich beim DS kognitive und psychomotorische Lei­stungsdefizite durch gezielte frühkind­liche Fördermaßnahmen teilweise mil­der(Wisniewski, Laure-Kamionowska & Wisniewski 1984; Hanson 1981). So könnte ein psychomotorisches Training dazu führen, daß potentiellen Defiziten in diesem Leistungsbereich in gewissem Umfang entgegengewirkt werden kann. Vielleicht ist ein solcher Faktor, der an­scheinend bei allen bisherigen Untersu­chungen zum Vergleich der Reaktions­zeiten bei GB und DS nicht kontrolliert wurde, für die teilweise widersprüchli­chen Befunde verantwortlich. Dies wür­

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