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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Siegbert Kratzsch*» Zusammenhang von Symbolbildung und Sprachentwicklung

Lebenssituation und-geschichte

Sie lebt mit sieben weiteren Kindern in einer Pflegefamilie. Sie wurde dort mit 7 Jahren adoptiert, meint aber, daßsie echt sei, und nichtnur Pflege. Die Pflegestelle hat einen häufigeren Wech­sel der betreuten Kinder(27). Sie hängt am Pflegevater und besonders an der Pflegemutter, als erahne sie, daß diese ihr ein Leben erst ermöglicht hat, denn sie kam mit eineinhalb Jahren als Pflegekind in diese heutige Familie.

Fe. wurde als 4. Tochter persischer El­tern geboren und war ebenso wie die Zwillingsschwester, die bei der Geburt verstarb, eine Frühgeburt nach knapp sieben Monaten. Die Mutter starb eben­falls bei der Geburt. Bald nach der Geburt zeigte sie eine Spastik in Händen und Beinen und litt an einem Augenleiden, das heute durch eine Brille mit einer Sehfähigkeit von 20% korrigiert werden kann. Die spastischen Störungen wurden erfolgreich behandelt. Sie gilt als ent­wicklungsverzögert mit ungeklärtem Ver­dacht auf eine frühkindliche Hirnschä­digung und ist in der psychiatrischen Diagnosesonderschulbedürftig. Während das kleine Mädchen in die Pflegefamilie kam, war der Vater schwer an Krebs erkrankt und starb, als Fe. drei Jahre alt war.

Förderung

Die Förderung wird sehr kreativ und einfühlend, mit sehr guten, abgestimm­ten didaktisch-methodischen Angeboten durchgeführt

Da Fe. regelmäßig Subtraktionen als Ad­ditionen durchführt, bringt die Förder­lehrerin ihr eines Tages eine gebastelte Filz-Fingerpuppe mit. Das Püppchen, Herr Minus, trägt ein dickes, grün ge­maltes Minus als Bauchbinde um den Leib und soll, wie die Förderlehrerin sagt, heute beim Rechnen helfen. Das Mädchen zeigt sich wenig interessiert, so daß sie denHerrn Minus aufmalen soll. Sie zeichnet einen freundlichenHerrn Minus und fragt:Gibt es auch eine Frau Plus? Die Förderlehrerin sagt, die habe sie heute zu Hause gelassen. Daraufhin malt Fe. den Körper vonHerm

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Minus voll mit Tränen bedeckt. Ganz plötzlich wird sie wütend, packt das Fin­gerpüppchen, wirft es voller Wut explo­dierend im hohen Bogen in die Ecke und schreit:Jetzt ist er tot! Ich hasse Rech­nen, ich hasse ihn!

Die Förderlehrerin erschrickt, sitzt wie gelähmt im Stuhl, traurig und erschrok­ken, als wäre was Schlimmes passiert und sagt:Da bin ich aber traurig; dann: Da ist Herr Minus aber traurig.

Vier Wochen später holt die Förderleh­rerin wieder denHerm Minus nach einer Stunde Rechnen aus der Tasche und fragt Fe., ob Sie ihn noch kennt. Sie:Ih, ih, der Scheiß-Herr-Minus! Dabei wirft sie sich lachend auf den Boden. Die Förderlehrerin sagt ihr, daß er sich ver­wandeln kann und dreht ihn lachend am Finger um:Frau Plus kommt in Sicht. Ganz erstaunt nimmt das Mädchen das Püppchen vom Finger und spielt damit, läßt ihr eine andere kleine Puppe begeg­nen. Die Förderlehrerin nimmt die ande­re Puppe. Fe. läßt die Puppe in hohen Tönenzwitschern:Guten Tag, mein schönes Kind, ich bin die Frau Plus. Dann wirdHerr Minus von der anderen Seite beigedreht. MitHerrn Minus schlägt sie ein wenig auf das andere Püppchen ein und sagt im hämischen Ton:Ich bin der Herr Minus und ich hole alles weg.

Dann bekommt die Puppe von der För­derlehrerin einen Füller vonFrau Plus in die Hand gedrückt und schreibt eifrig Rechenaufgaben: Und zwar sind es Ad­ditionen und Subtraktionen, die Fe. mit Frau Plus undHerrn Minus zügig und eine halbe Stunde lang erfolgreich rechnet, wobei manchmal, wennHerr Minus zu bedrohlich wird, aufFrau Plus von dem Mädchen gedreht wird. Sie kann ihre Rechenleistungen deutlich verbessern und addiert und subtrahiert Ohne anschauliche Stütze bis zwanzig. Auch die Ergänzungsmenge kann sie vorstellend in diesem Bereich bilden. Mit Plättchen stellt sie die Mengenopera­tionen richtig dar.

Folgerungen

Warum gehe ich hier so ausführlich auf dieses Beispiel ein? Man könnte ja an­

nehmen, daß es sich hier um eine Wir­kung des allgemeinen methodisch-didak­tischen Prinzips der Veranschaulichung oder der handelnden Erfahrungsvermitt­lung handelt, die zu einem neuen Lern­schritt führte. Das wäre recht eindrucks­voll, würde aber diese ausführliche Wür­digung an dieser Stelle nicht rechtferti­gen.

Auch liegt es nahe, entsprechend den psychoanalytischen Erkenntnissen, daß Lernen durch affektive Blockierungen i1.S. von Lernhemmungen und Ich-Ein­schränkungen des Kindes verhindert wer­den kann, bei Fe. nun zu vermuten, daß die erschütternden traumatischen Ver­lusterlebnisse ihres Lebens in dem Ab­ziehen, dem mathematischen Subtrahie­ren angesprochen sind, welche sie ver­drängt hat und die nun mit den entspre­chenden Affekten ins Bewußtsein treten. Damit wäre eine karthartische Gefühls­entladung mit Abfuhr bedrängender Affekte aus den bedrückenden und ver­drängten Lebensereignissen in der För­dersituation mit der einfühlenden Förder­lehrerin möglich geworden. Sie hätte zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten solcher, schon erworbener, aber nicht ausdrucks­fähiger Erkenntnisse des Mädchens ge­führt. Nur: Wo bleiben die Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen bei Fee, wenn das karthartische Moment und die Aufhebung der Verdrängung von Erinnerungsspuren die entscheidenden Prozesse gewesen sein sollen?

Beide angesprochenen Erklärungsansätze fassen zu kurz: Sie unterliegen einmal unserer Denkgewohnheit, kognitiv struk­turierende Lernprozesse zwar durch emotionale Antriebe befördert oder be­hindert zu sehen(Gefühle als Antriebe von Erkenntnisgewinnung und Denkakten bzw. hier bei Fe. auch als hemmende Kräfte), sie aber in ihrer inhaltlichen Struktur vom affektbezogenen Erleben unabhängig zu denken. Oder wir haben die Tendenz, die gefühlshaft-geladenen Erlebnisqualitäten nur als ein Medium vorstellungsnäherer oder handlungsnä­herer Veranschaulichung im Lernprozeß anzusehen derHerr Minus mit dem Minuszeichen auf dem Bauch veranschau­licht die Subtraktion bzw. bringt sie auf das Handlungs- und Bildniveau in der

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1992