Lernsituation. Hier wären Gefühle als Medium der Veranschaulichung pädagogisch verstanden. Ich vermute, daß die Trennung von strukturierender Affekterfahrung und strukturierender Denkerfahrung im erwachsenen Denken und Erleben deshalb vorherrscht und unsere Denkgewohnheiten bestimmt, weil eine Regression unseres Denkens auf unsere eigene, als Kind erlebte Erfahrungsbildung nicht möglich ist bzw. nur unter Zuständen des Traums oder von psychotischen Erlebnisformen, wir aber eine Regression unseres Affektlebens sehr wohl im Alltag erleben können. In der vorn entwickelten Auffassung gilt für die Herausbildung der Symbole des Kindes und im beginnenden Spracherwerb aber, daß im Symbol eine emotional-kognitive Organisation von Erfahrungen geschieht, welche affektive und bedürfnisbezogene ebenso, wie sensomotorische und kognitive Strukturierungen verknüpft.
Die Analyse des Entwicklungs- und
Lernfortschritts von Fe. in der geschil
derten Situation erlaubt einen dritten
Erklärungsansatz, welcher durch den
Symbolbegriff möglich wird, diesen aber
auch veranschaulichen bzw. in seiner
Bedeutung für die Förderung sichtbar
machen kann:
1. Das Beispiel zeigt ein spezifisches Verhältnis eines Zeichens zu seinem repräsentierten Inhalt, der in einer organisierten Sinngestalt besteht. Diese ist durch die symbolisierte Organisation der Erfahrung des Mädchens geprägt.
2. Das“Minus” als Zeichen für eine Mengenoperation, die reversibel ist, ist für das Mädchen nicht unterschieden von dem Symbolinhalt, den es als Zeichen repräsentiert.
3. Indem die Kodierung, d.h. die Repräsentation durch das Zeichen“Minus” keinen Bedeutungsabstand zum Symbolinhalt hat, nämlich zu Bedeutungen wie“Wegnehmen”,“ Verlorengehen”, kann eine Kontextveränderung des Symbols“Wegnehmen” nicht stattfinden.
Siegbert Kratzsch*» Zusammenhang von Symbolbildung und Sprachentwicklung
4. Solange sich keine Distanz zwischen Signifikant, d.h. dem repräsentierenden Zeichen und dem Signifikat, d.h. dem durch das Zeichen repräsentierten Inhalt einstellen kann, wird der Symbolinhalt, also die Organisation der Erfahrungselemente des Abziehens bzw. Subtrahierens als einem unwiederbringlichen, irreversiblen Verlust, einem Wegnehmen, einem“Minus”, nicht durch sprachliche Informationen erreicht und kann nicht neu organisiert werden.
5. Das Symbol, welches über Zeichen repräsentiert wird, ist als Sinngestalt nicht allein eine kognitiv organisierte Struktur. Sie ist eine Sinngestalt, welche die interaktiven, bedürfnisbezogenen-affektiven, sensorischen und motorischen Elemente von Erlebnissen zu einer Gestalt im Sinne der Invariantenbildung im Erfahrungsstrom des Kindes organisiert.
6. Erst wenn das Symbol, nämlich der sinnhaft organisierte Inhalt— hier bei Fe. das“Wegnehmen” und“Abziehen” als unwiederbringlicher Verlust — im situativen Kontext der interaktiv ausgetauschten Zeichen erscheint und vom sozialen Partner, hier der Förderlehrerin“verstanden” und damit geteilt werden kann, kommt es zu einer Dezentrierung des Zeichens bei gleichzeitiger Umgestaltung der symbolisch organisierten Erfahrung.
7. Nicht der Code, das Zeichen, ist die Seite der Symbolisierung: Die Sinngestalt organisiert das Kind nicht auf der Ebene der Repräsentation von Erfahrungen, nicht auf der Ebene der Zeichen, sondern jenseits von ihnen. Die Symbolbildung kann eher als Konstruktion der Erfahrungselemente selbst zu Sinngestalten aufgefaßt werden. Die Information zu dem Zeichen “Minus” führt bei Fe. nicht zur Veränderung.
. Symbole sind auch in der Förderung auf unterschiedlichen Ebenen zu beachten:
—“Material”-Ebene, nämlich das Mit
tel der Repräsentation; hier:“Herr Minus” als Handpuppe; waagerechter
co
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIIL Heft 2, 1992
Strich als Minuszeichen: Der Repräsentationsmodus ist hier ein realer Gegenstand und die Handlung mit ihm
—“Inhalts”-Ebene, das Repräsentierte; hier: Abziehen, Wegnehmen, Verlieren als nicht-reversible Operation von Verlust und Trennung. Sie sind Invarianten von Erfahrunen und aus ihnen gewonnene, wie konstruierte Sinngestalten des Mädchens
— Ebene der Relation von Zeichen, dem “Code”, zu dem Inhalt; hier analoge Relation von Zeichen und Inhalt; keine Distanz und beliebige Ersetzung der Zeichen durch andere; die Modalität des Zeichens ist unauflöslicher Bestandteil des Symbolinhalts selbst: Die Handpuppe und das Minuszeichen sind das Verlorengehen und der Verlust
— Pragmatische Ebene: Ebene des Verhältnisses der Person, die das Zeichen benutzt, zu anderen(z.B. eine reine Wiederholung i.S. der Nachahmung; eine Konstruktion, eine Ko-Konstruktion)
9. Die Symbolbildung bzw. die Symbolfunktion kann nicht als ein Mechanismus aufgefaßt werden, der den verschiedenen Ebenen der Darstellung gemeinsam ist und den Erwerb der kollektiven Bedeutungen des Menschen organisiert, wie Piaget postulierte(1969, 19). Diese automatische Entsprechung zwischen der Struktur der Repräsentationsmodalitäten(Signifikant), den kollektiven Bedeutungen und der Bedeutungsstruktur in der Schema-Bildung(Signifikat) des Kindes wird erst im Aneignungsprozeß erworben.
Diese kollektiven Bedeutungen des gesellschaftlichen und kulturellen Erbes werden durch die Invarianten in der Interaktion der Eltern und Sozialpartner mit dem Kind erworben(s. Lorenzer 1977), und manchmal, wie bei Fe. sichtbar, durchaus mit großen Krisen und starken emotionalen und kognitiven Erschütterungen.
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