Neue Wege in der Prävention und
Therapie von LRS
Von Petra Bee-Göttsche
Der Zusammenhang zwischen dem Kurzzeitgedächtnis und dem Schriftspracherwerb wird indieser Theoriearbeit dargestellt. Die Beziehung ergibt sich aus der Tatsache, daß das Aufrechterhalten von Information im KZG, die Repetierstrategie, eine wichtige Voraussetzung für die Phonemanalyse und-synthese, den zentralen Anfangsl-sestrategien, darstellt. Ein Modell der effektiven Förderung des KZGs wird vorgeschlagen und seine Möglichkeiten zur Prävention von LRS diskutiert.
The article gives an account of the relation between short term memory(STM) and the acquisition of reading/writing skills. This relation seems to be crucial since the maintenance of information in STM ‚the rehearsal strategy, is an important prerequsite for both prereading skills phoneme analysis and-synthesis. The author proposes a model of effectively improving STM and discusses its contribution to the prevention of LRS(reading/writing disability).
In den letzten 16 Jahren wurden große Fortschritte im Verständnis dessen erzielt, welche Faktoren beim Schriftspracherwerb eine zentrale Rolle spielen. Insbesondere wurde der phonologischen Verarbeitung eine zentrale Bedeutung beigemessen. Phonologische Verarbeitung bezeichnet hier den Gebrauch der klanglichen Eigenschaften unserer Sprache bei bestimmten Aufgaben(vgl. Wagner& Torgesen, 1987). Insbesondere zwei Strategien, die solchermaßen phonologische Information nutzen, wurden als wichtige Faktoren für den Schriftspracherwerb identifiziert:
— Phonemische Bewußtheit als die Fertigkeit, Wörter in Phoneme zu zergliedern(Phonemanalyse) und umgekehrt Einzellaute zum Wortganzen zu verbinden(Phonemsynthese).
— Phonologische Codierung als die Fertigkeit, einen phonologischen Code zur Aufrechterhaltung von Information im Kurzzeitgedächtnis(KZG) zu gebrauchen. Das heißt, Sprache laut oder still für sich zu repetieren.
Kaum ein Forschungsbereich könnte deshalb so viele Früchte für die Praxis der Prävention und Intervention bei Risiken der Lese-Rechtschreibschwäche(LRS)
tragen wie die phonologische Verarbeitung. Leider steht dem wachsenden Interesse an diesem Thema im englischsprachigen Raum eine fast vollständige Ignoranz im deutschsprachigen gegenüber. Der vorliegende Artikel versucht die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchungen in diesem Feld für die Probleme von leserechtschreibschwachen Kindern darzustellen. Schließlich sollen davon konkrete Vorschläge für präventive und therapeutische Maßnahmen abgeleitet werden.
Theorie
Bereits die frühen Studien von Burt(1909, z. n. Rizzo, 1939) und Abelson(1911, z. n. Rizzo, 1939) beschäftigten sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Gedächtnis von Kindem und ihren schulischen Leistungen. Heute interessiert vor allem die Beziehung zwischen dem Kurzzeitgedächtnis und dem Schriftspracherwerb. In Längsschnittstudien wurde bei Kindergartenkindern ein Zusammenhang zwischen den Leistungen im KZG und der späteren Leseleistung dergestalt gefunden, daß bei niedrigen KZG-Werten zukünftig Probleme mit der Schriftspra
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIIL, Heft 2, 1992
che zu erwarten waren(vgl. Jorm, Share, Maclean& Matthews, 1984; Mann und Liberman, 1984; Näslund und Schneider, 1989).
Die Erklärung dieses empirisch vorgefundenen Zusammenhangs läßt sich durch die Betrachtung der Aufgaben finden, die sich den Anfangsleserinnen und-lesern stellen. Sie haben im wesentlichen zwei Möglichkeiten, geschriebene Wörter zu entschlüsseln:
— erstens, direkt mit Hilfe einer graphemischen Analyse des Wortes(Zugang über das Wortbild).
— zweitens, über die Phonemsynthese, d. h. die Decodierung eines geschriebenen Wortes in seine phonologische Repräsentation(Bildung des Wortklanges).
Geübte Leserinnen und Leser müssen nur noch bei unbekannten Wörtern auf die mühsame Phonemsynthese zurückgreifen(vgl. Coltheart, 1978); bei bekannten können sie aufgrund ihrer Erfahrung das Wortbild sofort mit einem bestimmten Wortklang verbinden. Der Anfänger/ Die Anfängerin muß sich dagegen noch die Mühe des Laut-für-Laut-Aufbaus des Wortes machen(vgl. Doctor& Coltheart, 1980), um diese Assoziation herstellen
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