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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Petra Bee-Göttsche+ Prävention und Therapie von LRS

zu können. Share und Jorm(1987) spre­chen deshalb von einem Selbst Trainings­Mechanismus der Phonemsynthese für den Sichtwortschatz. Dieser Argumenta­tion zufolge, hängt die Zahl der Wörter, die ein Kind über den graphemischen Zugang lesen kann, von seiner Fähigkeit ab, unbekannte Wörter phonologisch zu entschlüsseln. Es funktioniert also ge­mäß des Matthews-Prinzips(vgl. Stano­vich, 1986): Je mehr jemand hat, desto mehr bekommt er.

Nach Stanovich(1985) liegt in den Ope­rationen der phonemischen Bewußtheit die Begründung der Notwendigkeit eines guten KZGs für den Anfangsleseprozeß: Bei der Phonemsynthese(der Lautver­schmelzung) benötigt das Kind einen kurzfristigen Speicher, in dem es wäh­rend des Versuchs, eine Reihe visueller Buchstaben in Laute umzuformen, die Laute der bereits entschlüsselten Buch­staben festhalten kann. Außerdem muß es bei einem Wort, das noch nicht sofort erkannt wird, eine Reihe möglicher Aus­sprachen der Buchstaben ausprobieren. Diese einzelnen Laute müssen dann zu­sammengezogen werden, um eine mög­liche Aussprache des Wortganzen zu er­geben. Umgekehrt wird bei der Phonem­analyse(der Lautsegmentierung) ein Speicher, der das Wort für die Analyse festhält, gebraucht.

Im Arbeitsgedächtnismodell(Baddeley & Hitch, 1974; Baddeley, 1990) wird diese geforderte Speicherfunktion von der phonologischen Schleife innerhalb des Kurzzeitgedächtnisses übernommen (vgl. Baddeley, 1979b). Dieser Gebrauch der phonologischen Schleife wird als Repetierstrategie(auch:rehearsal- oder Wiederholungsstrategie) bezeichnet. Dahinter steht nichts anderes als die be­kannte Strategie, Wörter oder Zahlen(z. B. Telefonnummern) so lange vorzu­sprechen(laut oder still), bis sie erinnert werden sollen; ein sprachlicher Code wird so aufgebaut und durch die Wiederho­lung vor dem zwangsläufigen Verfall gerettet. Dieser theoretisch angenomme­ne Zusammenhang zwischen phonemi­scher Synthese- und Analysefähigkeit ei­nerseits und der Gedächtnisleistung an­dererseits konnte in verschiedenen empi­rischen Untersuchungen(vgl. Goldstein,

1976; Näslund& Schneider, 1990) bestä­tigt werden. Phonemische Bewußtheit wiederum entspricht einer Teilstrategie des Lesens und Schreibens(vgl. Bee­Göttsche, 1990a).(Für eine kurze Dar­stellung der Rolle dieser Strategie inner­halb der wichtigsten Lesemodelle s. Scheerer-Neumann, 1989.) Damit erklärt sich die oben berichtete Beziehung zwi­schen Defiziten im Kurzzeitgedächtnis und Problemen beim Schriftspracher­werb. Eine Unterlegenheit schlechter Le­ser/Leserinnen in KZG-Aufgaben wur­de tatsächlich immer dann und nur dann gefunden, wenn der Einsatz einer Repe­tierstrategie überhaupt möglich war. So fand sich eine deutlich schlechtere Lei­stung dieser Kinder, wenn es darum ging, sich Zahlenfolgen(vgl. das Übersichts­referat von Rugel, 1974), Buchstaben­ketten, Sätze, Wörter(vgl. Mann, Cowin & Schoenheimer, 1989) oder Bilder von Objekten zu merken(vgl. Brady, 1986). Wenn es dagegen um das Merken von Nonsensfiguren, oder anderen schwer zu benennenden Symbolen ging, wurde kei­ne Beziehung zur Leseleistung gefun­den. Aus den Ergebnissen von Swanson (1978) und anderen, daß sich bei Nonsens­figuren keine Leistungsdefizite schlech­ter Leser mehr finden lassen, ist gleich­zeitig zu schließen, daß die Leseschwäche nicht mit Problemen im visuellen Ge­dächtnis einhergeht.

Es ist anzunehmen, daß nicht nur ältere Kinder eine größere Vielfalt von Strate­gien, wie das Repetieren, effektiver nut­zen(vgl. Kail, 1990), sondern auch, daß Leistungsunterschiede innerhalb einer Altersstufe bei vielen Aufgaben deutlich reduziert werden könnten, würden Kin­der Instruktion und Unterstützung im Gebrauch von angemessenen Aufgaben­strategien erhalten.

Praxis

Es soll nun zunächst so vorgegangen werden, daß Erfahrungen aus Program­men zur Förderung der Repetierstrategie zusammengetragen werden. Auf der Su­che nach solchen Interventionen wird man insbesondere in den 70er Jahren, zur Zeit der sogenannten Förderwelle, fündig.

Ziel der damaligen Trainingsexperimente war es vor allem, die Faktoren zu identi­fizieren, welche die Aneigung und den Transfer der Strategie gewährleisten. Die Punkte lassen sich zu folgenden Prinzipi­en zusammenfassen, an denen sich eine effektive Förderung orientieren sollte:

Geeignete Aufgabenstellungen. Viele Gedächtnisstrategien werden zuerst un­ter Aufgabenbedingungen auftreten, wel­che die optimale Verarbeitung des zu lernenden Materials erlauben. So ist es nach Waters und Andreassen(1983) ent­scheidend, daß die Kinder eine neue Stra­tegie zunächst in einer Situation kennen­lernen, die auf deren Gebrauch zuge­schnitten ist. Optimal erscheinen: Ange­messenes, d. h. bedeutungsvolles sowie bekanntes Material und dann hinreichend Zeit für die Kinder, um es zu untersuchen (vgl. auch Schneider& Pressley, 1989). Ebenso muß die auf das Kind abgestimmte Aufgabenschwierigkeit gefunden werden, um es weder zu unter- noch zu überfor­dern(vgl. Asamow& Meichenbaum, 1979).

Häufige Wiederholung. Allein schon die wiederholte Konfrontation mit Auf­gaben und Materialien kann zur Ent­wicklung eines Strategieverhaltens füh­ren. Dieser Wiederholungseffekt ist bei Gedächtnisaufgaben vor allem bei sol­chen Kindern zu erwarten, die zwar be­reits die geforderte Strategie, aber noch zu wenig Erfahrung im Umgang mit ihr besitzen. Aus demselben Grund könnten auch eher ältere Kinder von der Aufga­benwiederholung profitieren(vgl. Asar­now& Meichenbaum, 1979).

Motivation. Um strategisches Verhalten langfristig sichern zu können, muß die Motivation der Kinder Berücksichtigung finden(vgl. Borkowski& Büchel, 1983). Wichtig ist, daß die Kinder sich nicht nur der Nützlichkeit des Gebrauchs einer spe­ziellen Strategie unter bestimmten Be­dingungen bewußt werden, sondern er­fahren, daß strategisches Verhalten im allgemeinen oft die Leistung beim Ler­nen und im Gedächtnis anwachsen läßt. Zur Motivation gehört auch die Frage der Belohnung. Haines und Torgesen(1979,

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIIL, Heft 2, 1992