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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Hans-Peter Langfeldt+ Kulturelle Unterschiede bei der Beurteilung von erziehungsschwierigem Verhalten

Absolute Häufigkeit

Od 2,1-1,5-0,9-0,3 0,3 0,9 1,5 Faktorwerte

2,1

27 33 39 45

-&- deutsche Stichprobe-®- korean. Stichprobe

Abb. 2: Häufigkeitsverteilungen der Faktorwerte

auf dem Diskriminanzfaktor erreicht wird.

Die Abbildung 2 enthält die Häufigkeits­verteilung der individuellen Faktorwerte für beide Gruppen. Die Werte der deut­schen Stichprobe liegen relativ eng zu­sammengedrängt im Bereich von-2.1 bis +0).3, während die Werte der koreanischen Stichprobe im Bereich von-2.1 bis+4.5 weit auseinandergespreizt sind. Gemessen an der Anzahl der Personen ist die Überschneidung der beiden Stichpro­ben jedoch gering. Dies zeigt sich im Vergleich der tatsächlichen Gruppenzu­gehörigkeit mit der durch die Diskrimi­nanzanalyse vorhergesagten. Die Tref­ferquote der Vorhersagen beträgt bei den deutschen Lehrkräften 98,4%(121 von 123) und bei den koreanischen 84,6% (104 von 123). Die Gesamttrefferquote beläuft sich auf 91,5%(225 von 246).

Diskussion

Die feststellbare interkulturelle Gemein­samkeit der Lehrerurteile in Höhe von r = ‚53 über potentiell problematisches Schülerverhalten belegt, daß der Kontext Schule und Unterricht allein bereits eine normierende Wirkung auf die Ein­schätzung von Schülerverhalten ausübt. Ein vergleichbar normierender Effekt 1äßt sich bei den relativ gleichbleibenden In­halten impliziter Theorien von Lehrern über die Schülerpersönlichkeit(Hofer 1986, Kap.3) vermuten.

Spezifische kulturelle Werte und Nor­men erhöhen zusätzlich die Übereinstim­

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mung zwischen Lehrkräften innerhalb einer Kultur. Dabei ist die Übereinstim­mung zwischen deutschen Lehrkräften höher als die zwischen koreanischen(r= .94 gegen r=.79).

Die in Tabelle 1 oberhalb der Diagonalen aufgeführten Korrelationseffizienten las­sen weder auf Lehrer- noch auf Schüler­seite geschlechtsspezifische Einflüsse erkennen. Dies muß nicht in Widerspruch zu neueren Untersuchungen stehen, in denen sich bei einzelnen konkreten Verhaltensweisen geschlechtsspezifische Unterschiede zeigten. In der hier vorge­nommenen globalen Betrachtungsweise von 106 Verhaltensweisen tragen selbst sehr deutliche geschlechtsspezifische Effekte bei einigen wenigen Items kaum etwas zur Varianzaufklärung bei. Ande­rerseits stellt sich die Frage, inwieweit bei der gegenwärtigen Befundlage geschlechtsspezifische Unterschiede bei einzelnen wenigen Verhaltensweisen, wie z.B.lügen,geschwätzig,ängst­lich in der Untersuchung von Borg& Falzon(1990), nicht nur Zufallsergeb­nisse sind.

Bei den meisten der erfragten Verhaltens­weisen ist ein kulturspezifischer Effekt nicht oder nur sehr schwach ausgeprägt. Diejenigen Items jedoch, bei denen über die punktbiseriale Korrelation von Item­antwort und Kulturzugehörigkeit der Lehrkraft ein substantieller Effekt nach­weisbar ist, zeigen einen Kultureffekt mit hoher inhaltlicher Prägnanz auf. Die sechs diskriminierenden Items entstam­men dem Bereich des äußeren Erschei­nungsbildes und des Freizeitverhaltens.

Aufgrund dieser Items könnte man sich bildhaft einen Schüler vorstellen, der sich wie ein Punker die Haare grell färbt, in Korea ein T-Shirt mit dem Aufdruck Hard-Rock CAFE LONDONbzw. in Deutschland eines mit asiatischen Schrift­zeichen trägt und gemeinsam mit einer geschlechtsgemischten Jugendclique eine Diskothek besucht. Für einen Hauptschul­lehrer oder Lehrerin in einer deutschen Großstadt stellt ein solcher Schüler oder eine solche Schülerin kein erzieherisches Problem dar. Die Kollegen und Kollegin­nen in Seoul dagegen werden darin mög­licherweise ein Problem sehen, das sie sogar als gravierender einstufen als das Verhalteneines Schülers odereiner Schü­lerin mit regressivem, nach innen gerich­tetem Verhalten.

Auch heute noch ist die koreanische Ge­sellschaft von der Philosophie des Kon­fuzius stark beeinflußt(S.I. Kim 1988). Sie erwartet von jedem einzelnen ein hohes Maß von sozialer Anpassung und Einordnung in den Familienverband. Ein Jugendlicher, der bereits durch seine äu­ßere Erscheinung auffällt und damit sei­ne Individualität betont, löst sich aus der traditionellen Familienbindung ebenso wie derjenige, der sich einer unabhängi­gen Jugendgruppe anschließt und in Dis­kotheken Gefallen an der Musik und dem Verhalten einer fremden Kultur findet. Ein solches Verhalten leugnet die Grund­werte der konfuzianischen Kultur und wird dementsprechend als problematisch angesehen. Vor diesem kulturellen Hin­tergrund ist es nicht überraschend, daß bei koreanischen Befragungen von Leh­rerndas Bildeneeiner Clique(Lee 1982) bzw. derBesuch einer Diskothek(Lee & Park 1984) jeweils als das gravierend­ste Fehlverhalten von Jugendlichen über­haupt eingeschätzt wurde. Vielleichtspielt bei dieser Einschätzung auch die Be­fürchtung eine Rolle, die Jugendlichen könnten dabei Gelegenheit zu nicht tole­rierten sexuellen Kontakten finden. Das westliche Erziehungsmilieu, das dies al­les zuläßt, muß koreanischen Lehrern oder Eltern notwendigerweise suspekt erscheinen. Dementsprechend charakte­risieren koreanische Eltern, die schon länger in Deutschland leben, die deut­sche Erziehung als zu liberal, zu egoi­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 3, 1992