Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
123
Einzelbild herunterladen

korrektiv, kompensatorisch und reeduka­tiv(d.h. Aktivierung von Restfunktionen oder mangelhaft genutzter Funktions­potentiale) eine Funktionssteigerung, ­stimulierung,-ertüchtigung und-kor­rektur zu bewirken.

Letztlich geht es darum, Aspekte zur Frühförderung darzustellen, denen ein Menschenbild zugrundeliegt, das sich weitgehend nicht an der auch heute noch verbreiteten defizitären Sichtweise des behinderten Menschen orientiert, sSon­dern vielmehr den Behinderten in seiner Gesamtentwicklung einschließlich sei­ner Bedürfnisse und Interessen berück­sichtigt.

Definitorische Abgrenzungen Definition: Geistige Behinderung

Behinderung ist ein relationaler Begriff, u.a. abhängig von den jeweiligen Nor­men einer Gesellschaft, die entsprechend den zeitlich und örtlich sich wandelnden Beurteilungskriterien differieren. Dabei ist zu bedenken, daß Behinderung, somit auch geistige Behinderung, ein hypothetisches Konstrukt, d.h. eine Varia­ble ist, die nicht direkt erfaßbar ist, viel­mehr eine Abstraktion aus bestimmten Erlebens- und Verhaltensäußerungen darstellt. Dennoch kann derartigen heu­ristischen Modellen, d.h. Modellen, die zum besseren Verständnis von Sachver­halten bzw. zum Auffinden neuer Sach­verhalte dienen, eine ausreichende empi­rische Evidenz zugesprochen werden. Im Hinblick auf geistige Behinderung ist vereinheitlichend als Primärkategorie eine erhebliche Einschränkung der Bildungsfähigkeit zu sehen, wobei die Grenze zur Lernbehinderung fließendist. So sieht Bach(1974, 9 f.) in dem Mangel an Intelligenz(IQ< 60) das Leitkriterium geistiger Behinderung und weist auf die in je individuell unterschiedlichem Aus­maß vorhandenen Beeinträchtigungen hin, wie sie sich z.B. im Bereich der Psychodynamik, Sprache, Motorik, Sen­sorik, des motorisch-taktilen Erfassens und des Sozialkontakts ergeben können; d.h., wir können in den meisten Fällen

Knut Dönhoff- Frühförderung und geistige Behinderung

von Mehrfachbeeinträchtigungen bzw. -behinderungen sprechen.

Das bisher Gesagte weist darauf hin, daß geistige Behinderung nicht als isolierter Defekt zu sehen ist, sondern stets und dieser Aspekt ist von besonderer Bedeu­tung für die Frühförderung eine Beein­trächtigung der Gesamtpersönlichkeit darstellt.

Ein in Zusammenhang mit geistiger Be­hinderung auftretender häufiger Erzie­hungsmangel(aufgrund der Resignation der Eltern; Bach 1974, 10; ders. 1979, 197) bzw. Erziehungsfehler(z.B. aus Schuldgefühlen gegenüber dem behin­derten Kind, aus Mitleid, Ängsten) kann dieses Spektrum an Auffälligkeiten noch erweitern bis hin zuausgewachsenen neurotischen Deformationen.

Nach Bach(1974, 9) gilt derjenige als geistigbehindert, der aufgrund von gra­vierenden Beeinträchtigungen der Intel­ligenzfunktionen in seinem Lernverhal­ten als auch in seiner seelisch-geistigen Gesamtentwicklung wesentlich im Ver­hältnis zu Gleichaltrigen zurückbleibt. Das Lern- und Denkverhalten(Aufneh­men, Verarbeiten, Speichern von Infor­mationen) bleibt i.d.R. vorwiegend im Bereich der Anschauung verhaftet. Für Bach(1979, 198 f.) sind neben den Be­einträchtigungen des Lernverhaltens mo­torische Insuffizienzen, Funktionsstörun­gen und erschwerende soziale Gege­benheiten besonders zu nennen.

Ramey und Bryant(1986, 467) betonen zwei gleichrangig zu sehende Charak­teristika geistiger Behinderung: Neben den signifikanten unterdurchschnittlichen Intelligenzfunktionen und-einbußen weisen sie auf Defizite im Anpassungs­und Sozialverhalten hin. Hierbei werden ebenso wie bei Bach sowohl das In­telligenz- als auch das adaptive Verhal­ten als von Umweltfaktoren beeinflußbar gesehen. Als Ursachen gelten in der Re­gelbiologische Faktoren, wie z.B. heredi­täre Faktoren, Infektionskrankheiten oder toxische Umweltfaktoren. Ähnlich äu­Bert sich Bach(1979, 197), wenn er von einer Komplexität, Mehr- oder Multidi­mensionalität der Entstehungs- und Ver­stärkungsbedingungen spricht, d.h., man sollte stets von einem Syndromcharakter der geistigen Behinderung ausgehen.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIIL Heft 3, 1992

Bezogen auf die schulpflichtige Bevöl­kerung sind in Westdeutschland konstant ca. 0,5-0,6% geistigbehindert; bei einer IQ-Grenze< 50 gelten 0,4% der Kinder und Jugendlichen als geistig behindert. Hierbei sind Kinder und Jugendliche aus den unteren Sozialschichten überreprä­sentiert.

Auf den verschiedenen Lebensalters­stufen variiert der Anteil von Menschen mit geistiger Behinderung, was sich al­lein schon durch die Zunahme des An­teils älterer Menschen erklärt.

Frühförderung

Geht man vom Begriff aus, so bedeutet Frühförderung ganz banal: frühes För­dern. Damit ist jedoch wenig erklärt: Was ist früh? Was bedeutet Fördern? Früh bedeutet in diesem Zusammenhang, so früh wie möglich und das heißt nach Möglichkeit schon intrauterin. Dabei kann man die pränatale Diagnostik im­mer stärker vorverlegen:Es droht die gezielte Suche nach Risikofaktoren in der Genstruktur der potentiellen Eltern selbst.(Weiss 1992, 7).

Der BegriffFördern kann wie folgt umrissen werden: Eltern fördern ihr Kind, indem sie es in die Gesellschaft einfüh­ren, mit den Regeln des effektiven Zu­sammenlebens vertraut machen, helfen, vorhandene Fähigkeiten zu Fertigkeiten zu entwickeln, indem sie ihr Kind erzie­hen, beschützen, fördern. Nach Heese (1978, 4; auch Müller 1981; Eberwein 1980, 3; Bach 1974, 7 f.) ist Frühförde­rung ein Sammelbegriff, der mehrere unterschiedliche sich wechselseitig be­dingende Tätigkeitsbereiche bzw. Auf­gaben einschließt.Dazu sind zu rechnen: Früherkennung und-diagnostik, Früh­erfassung, Früherziehung, Frühtherapie bzw. Frühbehandlung und Frühberatung.

Früherkennung, Frühdiagnostik: Zu­nächst einmal muß die Behinderung als solche erkannt sein, als Funktionsano­malie, Schädigung, entwicklungsdepri­vierende Aufwuchssituation. Dabei sind Früherkennung und Frühdiagnose kein einmaliges Geschehen. Behinderung ist nichts Statisches; somit muß es sich bei

123