Knut Dönhoff- Frühförderung und geistige Behinderung
der Diagnose ebenfalls um ein prozeßhaftes Geschehen handeln, das die Behinderung in ihrem Verlauf stets neu systematisch erfaßt und auf Änderungen hin überprüft. Was die Heil- oder Sonderpädagogen anbetrifft, so findet die heilpädagogische Diagnostik i.d.R. erst im Anschluß an medizinische, psychologische und pädagogische Diagnostik statt, so daß sie in den meisten Fällen im Vergleich zur stark symptomorientierten medizinischen Diagnostik und der psychologischen Diagnostik, die über den Aufweis von Kausal-,‚Ursache-Wirkungszusammenhängen hinausgeht und die funktionalen und psychodynamischen Abhängigkeiten eines Zustandsbildes erklärt, vor allem verständlich macht, ergänzenden und prospektiven Charakter hat(siehe Kobi 1990, 19 f.). Dem Heilpädagogen geht es in den meisten Fällen nicht um den Aufweis, ob eine Behinderung vorliegt, sondern um die Abklärung des Schweregrades und Umfangs einer Behinderung, auch speziell gesehen unter dem Aspekt der Förderinstanzen und-einrichtungen, denen das Kind zuzuführen ist. Somit ist heilpädagogische Diagnostik als ein die vielschichtigen Förderbemühungen begleitender Prozeß auch als Begleit-Diagnostik zu bezeichnen. Diese die medizinische und psychologische Diagnostik ergänzende heilpädagogische Diagnostik ist nach Kobi(a.a.O., 21) prospektiv und positiv in vierfacher Weise:
— als Begleit-Diagnose,
— als Optimierungs-Diagnose ‚indem der Aufweis erbracht wird, welche Leistungen unter Anwendung bestimmter Hilfen das Kind erbringen kann, d.h., die situativen Bedingungen werden analysiert unter dem Aspekt der Praktikabilität für das Kind.
— als Bildbarkeits-Diagnose, d.h., die Bildungsmöglichkeiten des jeweiligen Kindes werden herauszufinden versucht; und zwar interessieren neben den kindlichen Kompetenzen verstärkt die bildungsrelevanten Rahmenbedingungen.
— als Förder-Diagnose, indem konkrete Angaben über einzuleitende Fördermaßnahmen i.S. einer bestimmten
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Lernstrategie und-taktik, um bestimmte Lernziele zu erreichen, einzuleiten sind.
Im Zusammenhang mit der Früherfassung und-diagnostik ist auf das Gebiet der Präventionhinzuweisen. Die Suche nach präventiven Maßnahmen im Sinne der Verhinderung bzw. Verringerung von Behinderung sollte stets Vorrang haben vor der Beschäftigung mit effektiven Frühfördermaßnahmen. So kann eine frühe Medikation, verbunden mit diätetischen Maßnahmen das Entstehen einer schweren Behinderung bei einer Stoffwechselstörung, z.B. der Phenylketonurie, die häufig geistige Behinderung nach sich zieht, verhindern.
Der Schwerpunkt der Frühförderung potentiell lernbehinderter oder verhaltensgestörter Kinder liegt in der Prävention, d.h., dem Entstehen der Behinderung oder der Störung soll vorgebeugt werden. Bei Menschen mit geistiger Behinderung gilt es i.d.R., den Schweregrad der Auswirkung geistiger Behinderung zu mildern.
Jedoch hat die Prävention auch eine problematische, gefährliche Seite: Das Ziel der Prävention, Behinderungen zu vermeiden, führt in Zusammenhang mit vorgeburtlicher Diagnostik häufig zum Schwangerschaftsabbruch. Das bisher Gesagte bedeutet, aus der Diagnostik kann ein sozial vermittelter psychischer Druck zur Prävention schwerer Behinderung entstehen, der sein Ergebnis in der gesellschaftlich geforderten Tötung ungeborenen Lebens finden kann, da die Norm, das Ziel der Gesellschaft, gesunde, intelligente, leistungs- und anpassungsfähige Menschen hervorzubringen, in keiner Hinsicht vom geistigbehinderten Menschen erreicht werden kann(Weiß 1992, 6). Somit ist die Notwendigkeit einer Frühförderung aufgehoben. Behinderung wird vermieden, indem der Behinderte vermieden wird(vgl. Thimm u.a. 1990, 361 f.).
Der derzeitige Präventionsbegriff will einerseits auf die durch Frühförderung erfolgenden Hilfen und Erleichterungen in vielfältiger Hinsicht für das behinderte Kind und seine Umgebung hinweisen, d.h., Leiden, Behinderung soll an der
Wurzel bekämpft werden, erst gar nicht entstehen, andererseits hat Prävention kontrollierenden Charakter, indem sie eine Verstärkung“einer stromlinienförmigen, behindertenfeindlichen Normalität gesellschaftlicher Leitbilder”(Antor 1989, 21) bewirkt.
Es gibt aber auch eine alternative, wenn man so will ökopsychologische Sichtweise von Prävention, wonach Prävention nicht nur bedeutet, Behinderung zu verhindern, sondern vielmehr geht es um die Steigerung der Lebensqualität entsprechend den vorhandenen Kompetenzen und Defiziten, d.h. die persönliche Lebensgestaltung soll optimiert werden (vgl. Weiß 1992, 7). Dabei ist der Begriff “Lebensqualität” wohl nur im Hinblick auf die individuelle Situation des Behinderten unter Bezugnahme auf seine ganz spezifische Persönlichkeitsentwicklung zu definieren.
Bei sozial benachteiligten Kindern ist diese Form der Prävention schon mit einer Eigenwelterweiterung gegeben. Präventiv zu arbeiten, bedeutet darüber hinaus, eine gleichberechtigte Zusammenarbeit von Eltern und Fachpersonal zu ermöglichen(a.a.O., 8 f.).
Früherfassung: Es ist durchaus möglich, daß Behinderung zwar als solche erkannt und diagnostiziert ist, aber nicht erfaßt wird. Man denke z.B. an das auch heute noch anzutreffende Verstecken von Schwerstbehinderten aus Angst vor persönlicher Diffamierung.Mit Früherfassung ist ein organisatorischer Vorgang gemeint,“der zwischen der ersten Diagnose und dem ersten Kontakt zwischen Kind und Eltern einerseits und dem oder den Förderspezialisten andererseits liegt” (Heese 1978, 5).
D.h., das Kind wird als behindert aktenkundig und es wird abgeklärt, welche stützenden Hilfen für das Kind und die Eltern/Familie unter den gegebenen Bedingungen notwendig sind.
Früherziehung ist nach Heese(1978, 5) das Kernstück der Frühförderung, ihrem Zweck dienen Früherkennung und Früherfassung.Damit ist eine möglichst früh einsetzende, planmäßig durchgeführte auf die Behinderung bzw. drohende Be
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIIL Heft 3, 1992