m
Knut Dönhoff- Frühförderung und geistige Behinderung
mit seinen linear-kausalen Erklärungen hin zu einer systemisch-ganzheitlichen Betrachtungsweise.
Kobi(1990, 85) erklärt hierzu, es sei günstiger, anstelle von einem Paradigmawechsel eine“Metanoia”, d.h. einen Gesinnungswandel, eine Sinnesänderung als Erklärung anzuführen als Voraussetzung für einen Methodenwechsel.
Es muß nicht besonders betont werden, daß eine sich an den individuellen Bedürfnissen des Kindes orientierende Betrachtungsweise keine durchgängig positive Resonanz findet. Wie häufig in der Wissenschaft, werden hier wohl Standpunkte zu sehr eindimensional gesehen und vertreten, wobei die Betonung nur bestimmter Aspekte eines sehr komplexen Geschehens zu scheinbaren Widersprüchen und in der Folge häufig zu vehement vertretenen Kontroversen
Chancen und Möglichkeiten im Zusammenhang mit Frühförderung
Nachdem auf die vielfältigen Probleme, die sich im Rahmen der Frühförderung ergeben können, exemplarisch eingegangen wurde, könnte der Eindruck entstehen, daß Frühförderung ein extrem anstrengendes, belastendes, von Förderspezialisten und Eltern als problematisch erlebtes Unterfangen darstellt, das u.U. den Aufwand nicht lohnt. Daß der Einsatz im allgemeinen recht lohnend ist, soll anhand der Möglichkeiten und Chancen der Frühförderung skizzierend aufgewiesen werden.
Bei einer von Gsödl u.a.(1989, 118 ff.) durchgeführten Studie zu Wirkungen der Frühförderung bei Geistigbehinderten aus der Sicht der Eltern, durchgeführt im Jahre 1988, ergab sich, daß über die Hälfte der Eltern die Ansicht vertrat, daß ihre Kinder selbständiger und selbstbewußter geworden seien und besser sprechen gelernt hätten. Mehr als ein Drittel der befragten Eltern nahmen Fortschritte in der kognitiven Entwicklung, im Arbeits-, Bewegungs- und Sozialverhalten wahr. Sie äußerten, sie selbst hätten ihre Einstellung zum behinderten Kind im
Hinblick zu mehr Realismus und Akzeptanz des Kindes geändert, ihre Verunsicherung habe abgenommen. Insgesamt konnte man von einer Steigerung der kognitiven, sozio-emotionalen und interaktionalen Kompetenz bei den Eltern nach der Durchführung der Fördermaßnahmen sprechen.
Derartige Effekte ergeben eine eindeutige Antwort auf die u.U. bei Eltern sich ergebende Frage nach dem Sinn und Wert von Früherziehung, wenn ihr behindertes Kind, unabhängig von dem Ergebnis der Frühförderung, letztlich doch in eine Schule für Geistigbehinderte eingeschult wird.
Es wäre zu überlegen, ob die derzeitigen Frühfördereffekte nicht so spektakulär wie erwartet ausfallen, weil u.U. die eingesetzten Methoden und angestrebten Ziele nicht die angemessenen bzw. realistischen sind.
Wie bereits erwähnt, vertritt man auch heute noch vielfach die Auffassung, eine möglichst genaue Diagnostik, orientiert an der Normalentwicklung, ergäbe ein präzises Bild der Störungen, Irregularitäten, Ausfälle und entsprechend müsse das Kind im Hinblick auf ein Training der ausgefallenen und defizitären Funktionen behandelt, im Hinblick auf Kompensation und Korrektion trainiert werden; es gilt somit das Motto: Je mehr Training, umso größer ist der Erfolg. Eine derartige an der naturwissenschaftlich-medizinischen Denkweise mit den bereits aufgewiesenen Problemen orientierte Vorgehensweise hat vielfach zu einem kritiklosen Einsatz der unterschiedlichen Förderstrategien geführt, was in einer permanenten Überforderung von Kindern und Eltern eskalierte. In diesem Sinne kann Frühförderung degenerieren zur“Beförderung” oder“Transportkunde”(Speck 1986, 149).
Das Kind ist inerster Linie Kind, Mensch und erst in zweiter Linie beeinträchtigt. Bei einem Vorgehen, welches die Eigenansätze beim Kind berücksichtigt, nicht manipulativ-dirigistisch verfährt, vielmehr assistierenden Charakter hat, auch Normales im behinderten Kind sieht anstelle eines rein pathologisierten Bildes, haben monokausale Denkmuster keinen Platz; sie sind viel zu einfach, die
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIII, Heft 3, 1992
Komplexität kindlicher Entwicklung zu begreifen.
Training ist zwar notwendig, aber nur im Hinblick auf die Berücksichtigung der Gesamtentwicklung des Kindes in seiner Familie(vgl. Speck 1986, 148 ff.). So können Trainingsprogramme schon in den ersten Lebenstagen die Saug- und Schluckbewegungen von Kindern mit Down-Anomalie durch aktive Hilfen erleichtern, was zur Normalisierung der Nahrungsaufnahme führt, aber auch eine differenzierte Artikulation und Phonation begünstigt.
Darüber hinaus ist zu betonen, daß es aufgrund der Plastizität und metabolischen Aktivität des Gehirns möglich ist, durch z.B. frühe motorische Trainings positiven Einfluß auf die Gehirnentwicklung zu gewinnen, und zwar nicht nur funktionelle sondern auch morphologisch-strukturelle Veränderungen zu bewirken über eine Forcierung der Synapsenbildung, d.h. der Ausbildung der Feinstruktur der Nervenzellen des Gehirns. In welchem Ausmaß derartige Möglichkeiten bestehen, ist allerdings nicht bekannt(Heese 1978, 13 ff.). Das Ziel derartiger Programme ist nicht an der NormalentwicklIng zu orientieren; Ziel kann und muß sein, die Kompetenzen des Kindes zu fördern, sein Selbstwertgefühl zu steigern. Orientierungsgesichtspunkt ist dabei das subjektive Erleben und Empfinden des Kindes, d.h., die Signale des Kindes müssen stets berücksichtigt werden.
Es gilt ebenfalls, die Kompetenzen der Eltern zu erweitern, wobei nochmals betont werden soll, daß die Therapeutenund Elternrolle streng zu trennen sind. Elterliche Kompetenz ist eine andere Kompetenz als die der Fachleute, wenn auch nicht weniger wichtig.
Es wird deutlich, daß günstige Entwicklungsverläufe beim behinderten Kind auch wesentlich von der Interaktion zwischen dem Kind und seiner Umgebung abhängen. Ungüstige Interaktionsmuster führen— wie bereits erwähnt— zu Sekundärbeeinträchtigungen; ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Fachleuten, Eltern und Kind— wobei stets auf die Vermeidung von Überprofessionalisierung zu achten ist— trägt zur Minimie
129