Beziehung von akustischem und visuellem Kanal bei stark schwerhörigen Schülern
Von Paul Heeg
Videofilme von Alltagsinteraktionen ca. 8-jähriger Schüler im Klassenraum einer Schwerhörigenschule werden mikroanalysiert. Der Artikel fokussiert dabei das Problem der Mischung von visuellem und akustischem Sprachcode. In der Literatur werden solche Mischungen skeptisch beurteilt, es fehlen aber empirische Untersuchungen. Äußerungen der Schüler, in denen beide Kanäle verwendet werden, werden in semantische Klassen eingeordnet. Es zeigt sich, daß etwa ein Drittel davon nur auf der Basis einer komplementären Beziehung der Kanäle verstanden werden kann. Hierfür werden phonologische, lexikalische, syntaktische und pragmatische Erklärungen gegeben. Am Schluß stehen Überlegungen dazu, ob das Wissen über einen solchen Code pädagogisch nutzbar gemacht werden kann.
Video films of everyday classroom interactions in a german school for about 8 years old hard of hearing pupils are analyzed in depth. The article focusses on the problem of mingling two language codes one on the acoustic and the other on the visual channel. The mixture of two codes is regarded sceptically in the literature but empirical investigation is lacking. Pupils utterances that use both channels are grouped according to semantic classes showing, that about one third can only be understood on the basis of a complementary relationship of both channels. Phonological, lexical, syntactical, and pragmatic reasons are given for this phaenomenon. At the endthere isthe idea, that knowledge about such a code can be usefull for the education of this group.
An Schwerhörigenschulen gibt es in zunehmendem Maße Kinder mit hochgradiger Schwerhörigkeit, deren spontane Äußerungen von Nichtbehinderten ohne Vorerfahrung nicht verstanden werden. Zum Zeitpunkt des Spracherwerbs fehlte diesen Kindern die Aufnahme fremder und eigener Lautäußerungen über das Gehör. Die Folge hiervon ist eine auf allen Ebenen lücken- und fehlerhafte Lautsprache. Dies führt wiederum zu Problemen beim Erwerb von sozialen und kognitiven Kompetenzen.
Die Schüler beherrschendie lexikalischen und syntaktischen Regeln der deutschen Sprache nur sehr mangelhaft. Diese Sprachkompetenz allein würde nur eine sehr reduzierte Kommunikation zulassen. Tatsächlich läßt sich aber bei intensiverer Beschäftigung eine Vielzahl komplexer Alltagsinteraktionen beobachten. Dies kann damit zusammenhängen, daß die Kinder in besonderer Weise Merkmale der kommunikativen Situation nut
zen. Solche situativen Strategien können aber viele Phänomene nicht erklären. Wenn etwa ein Schüler eine von der Lehrerin gegebene Erklärung seinen Mitschülern‘eben mal übersetzt’, dann spricht dies für die Existenz eines zumindest in dieser Klasse sozial geteilten Symbolsystems. Ein solches System wird in Heeg(1991) erarbeitet und vorgestellt. In Zusammenhang mit Symbolsystemen Hörgeschädigter steht die Frage, inwieweit die nicht voll funktionsfähige akustische Wahrnehmung durch einen anderen Sinneskanal ersetzt wird. Die Gebärdensprache der Gehörlosen stellt ein alternatives in dieser Gruppe effizientes Medium dar. Zu diesem Thema der Gehörlosenpädagogik gibt es eine umfangreiche Literatur mit ausgeprägter Schulenbildung.
In einer erbittert geführten Auseinandersetzung, dem sog. Gebärdenstreit, geht es vor allem um das pädagogisch zweckmäßige Kommunkationsmittel für den
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1992
Unterricht. Die manuale Methode strebt eine Verwendung der natürlichen Gebärdensprache der Gehörlosen(Deutsche Gebärdensprache, im weiteren: DGS) an, um kognitive Fähigkeiten und soziale Bezüge zunächst primär innerhalb der eigenen Behindertengruppe aufzubauen(Prillwitz 1989). Die Gegenposition der oralen Methode(van Uden 1987; Breiner 1985; Diller 1987; SchmidtGiovannini 1987) hält die Gebärden der Gehörlosen für ein Hindernis auf dem Weg zur Lautsprache und fordert eine absolute pädagogische Konzentration auf das Gehör. Daneben gibt es eine Reihe von alternativen oder vermittelnden Ansätzen(deren Behandlung den vorgegebenen Rahmen sprengen würde; Heeg 1991, 73-77 nennt einige Stichworte).
Die Literatur zum‘Gebärdenstreit’ beschäftigt sich ganz überwiegend mit dem Thema Gehörlosigkeit. Hier geht es um Schwerhörige, also um eine Gruppe der Hörgeschädigten, die häufig nur als Zwi
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