Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
168
Einzelbild herunterladen

Paul Heeg* Beziehung von akustischem und visuellem Kanal bei stark schwerhörigen Kindern

schengruppe zwischen Gehörlosen und Normalhörenden betrachtet wird. In die­sem Ansatz wird Kommunikation nicht als anzustrebendes Ideal betrachtet, son­dern als alltägliche Tatsache, deren ge­naue Kenntnis Voraussetzung für päda­gogische Intervention sein kann. Zumeist werden der akustische und der visuelle Kanal als getrennte Systeme analysiert; hier geht es jedoch um deren Interaktion in Äußerungen der Schüler. Dabei wird im folgenden die These eines besonderen akustisch-visuellen Kommunkationsmit­tels begründet, das weder Laut- noch Gebärdensprache darstellt.

Datenerhebung

Um Prozesse eingefahrener Etikettierung und Bewertung hinterfragen zu können, wurde ein mikroanalytischer Ansatz mit maximaler Analysetiefe gewählt.

Die untersuchte Sonderschulklasse wur­de über einen Zeitraum von zwei Jahren etwaeinmal wöchentlich beobachtet. Die hier ausgewerteten Videoaufnahmen stammen aus dem zweiten Jahr, in dem die Kinder die zweite Klassenstufe be­suchten(Alter: 8-9 Jahre). Die Kinder sind stark hörbehindert; es gibt eine Par­allelklasse mit weniger stark hörbehin­derten Schülern; bei einigen Schülern wird vonGrenzfällen zur Gehörlosig­keit gesprochen.

Gefilmt wurden relativ informelle Kom­munikationen im Klassenraum, in denen etwa Klassenaktivitäten vorbereitet oder außerschulische Erlebnisse erzählt wer­den.

Es wurden von insgesamt 2 Stunden 45 Minuten Film für bis zu 7 Akteure visu­elle und akustische Zeichen ermittelt. Für die Erschließung des Geschehens aus Lauten und Bewegungen werden unter­schiedliche Erklärungen gegeben: Ge­bärdende Schüler werden als Hypermo­toriker diagnostiziert; Schreie sind ag­gressiv oder ein sicheres akustische Si­gnal; verwaschene Laute sind Worte für Personen, die die Bedeutung zu kennen glauben. Die Sinnhaftigkeit des von mir beobachteten Geschehens nehme ich als Grundpostulat im Sinne der Sinnkonstanz von Hans Hörmann(1976) an. Die Ana­

168

lyse führt über eine Gruppierung von Zeichen und Reaktionen von Interak­tionspartnern zu sozialen Handlungen. Die Notation erfolgte auf der Basis der Glossentranskription von Prillwitz& Wuttke(1988, 372). An dieser Stelle reicht folgendes aus: Gesprochenes ist in Anführungsstriche gesetzt(fertig)und Gebärdetes mit Großbuchstaben notiert (FERTIG). Einige Gebärden enthalten mit Bindestrich klein geschrieben zu­sätzliche Bedeutungsanteile(FAHREN­schnell). Die restlichen Angaben enthal­ten überwiegend aktionale Anteile.

Das folgende Beispiel zeigt eine Inter­aktion zwischen den Schülern Thomas und Norbert über den jeweiligen Stand der Lösung von Aufgabenblättern:

Thomas: tickt mit Arm auf Norberts Tisch zeigt in Norberts Heft ICH zeigt mit anderer Hand in sein Heft zählt mit den Fingem EINS ZWEI zeigt auf weitere Aufgaben Norbert: FERTIG Thomas: zeigt in Norberts Heft FERTIGalle? zeigt in Norberts Heft DIE_ALLE die auch? Norbert: NEIN FERTIG Thomas: zeigt in Norberts Heft DIE_ALLE Norbert: NEIN Thomas: DU MUSST Norbert: mit Zeigen:(die und die) FERTIG (die und die)ZU_HAUSE DU MUSST AUCH

Die Interaktion läßt sich etwa wie folgt paraphrasieren:

Thomas:Du Norbert, ich habe diese beiden Aufgaben und jene

Norbert:Ich bin fertig

Thomas:Hast Du alle Aufgaben fertig, die auch?

Norbert:Nein. Ich bin fertig

Thomas:Hast Du alle Aufgaben?

Norbert:Nein

Thomas:Du mußt die anderen auch ma­chen

Norbert:Diese habe ich fertig, die anderen mache ich als Hausaufgabe. Du mußt das auch so machen

Modelle

In unserernormalen Welt wird inhalts­bezogene Kommunkation mit Lautspra­che und Schrift gleichgesetzt. Bildsym­bole wie etwa Verkehrszeichen gelten demgegenüber als reduziert. Körperspra­che bleibt unbeachtet oder wird mit dem Ausdruckverborgener Emotionen in Verbindung gebracht. Für den Bereich der Hörbehinderung werden hier einige Modelle skizziert.

Interferenz zwischen den Kanälen

Für die Gehörlosen bemängelt van Uden (1984, 164), daß das Gebärden ein gleich­zeitiges Sprechen behindert:... die Hände werden gewissermaßen gebun­den, Es ist nicht realisierbar, beide Sy­steme in der Praxis simultan und korrekt zu verwenden.

Für Schulte(1989, 252) sind Deutsche Gebärdensprache(DGS) und Deutsch zwei extrem verschiedene Sprachen. Ihr wortsprachlicher Charakter, die einge­schränkten Wortbildungsmöglichkeiten und der andersartige Satzbau mit der fehlenden Kopula führen dazu, daß Ge­bärdensprachkompetenz wenig Vorteile für das Erlernen der Lautsprache bietet. Die Gegenposition von Prillwitz(1989, 272) betont Transfermöglichkeiten: D.h., die einer jeden Grammatik zu­grundeliegenden kognitiven Substrate sind dem gebärdensprachkundigen Kind in der Gebärdensprache schon verfügbar und in einer Vielzahl von Fällen immer wieder verstanden und auch selbst ver­wendet worden. Diese kognitiven Grund­lagen grammatischer Elemente und Funk­tionen können als sichere inhaltsbezogene Basis den Erwerb einer neuen Sprache und ihrer Grammatik fundieren und absi­chern.

Unzureichende Beherrschung eines der Systeme

Quigley& King(1982, 456) analysieren bei Hörgeschädigten ein Ausborgen von Teilen unterschiedlicher sprachlicher Sy­steme. Maisch& Wisch(1986, 96) schrei­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVIIL, Heft 4, 1992