Paul Heeg* Beziehung von akustischem und visuellem Kanal bei stark schwerhörigen Schülern
ben über die von ihnen untersuchten Kinder:“Was sie sprechen können, sprechen sie, was sie nicht sprechen können, gebärden sie.”
In den aufgezeichneten Situation verwenden die Kinder für ein fehlendes Wort die Gebärde. Z.B.‘Muschel’ in: “Ja und dann SCHWIMMEN und dann suchen” MUSCHEL. Auch fehlende Gebärden werden lautsprachlich ersetzt: Z.B. war eine Zeitlang für“Hundert” keine Gebärde bekannt und wurde deshalb nur gesprochen.
Mischung der Kanäle zum Pidgin
‘“Pidgin’ bezeichnet eine vereinfachte Mischsprache; es stellt eine nur zweckbestimmte Kontaktsprache dar(vgl. Boyes-Braem 1988d, 69).
Die Verwendung von Pidgin unter Gehörlosen erfolgt in der Kommunikation mit Hörenden und unter Gehörlosen, die die Gebärdensprache nicht gut beherrschen(Boyes-Braem 1988d, 69—72). Quigley& King(1982, 456) bringen es in Zusammenhang mit inkonsistenter Sprachvermittlung. Gehörlose benutzen eine Mischung von Laut- und Gebärdensprache auch in formellen Situationen (Boyes-Braem 1988d, 72), etwa bei Feiern oder Reden.
Diese Betrachtungsweise schreibt nur den ‘reinen’ Systemen sprachlichen Charakter zu. Unter diesem Gesichtspunkt findet sich auf den Filmen weder korrektes Deutsch noch korrekte Gebärdensprache. Nach Ebbinghaus& Heßmann(1989, 52-54) verwenden deutsche Gehörlose in sehr vielen Äußerungen in ihrer Gebärdenkommunikation untereinander Elemente aus der Lautsprache.
Bilingualismus
Die Gebärdensprache ist für diesen Ansatz die‘Mutterspache’ Gehörloser. Auf dieser Basis wird Lautsprache unter Verwendung von Methoden des Zweitspracherwerbs aufgebaut. Als Grundlage hierfür wird eine kontrastive Grammatik von Laut- und Gebärdensprache gefordert(Hogger 1988; Prillwitz, 1989, 269— 272);
Vertreter des Bilingualismus(z.B. Greiner 1989; Hansen 1989; Hogger 1992) fordern eine Trennung von Laut- und Gebärdensprache, um eine Vermischung beider Systeme zu vermeiden und so den jeweiligen Systemcharakter zu erhalten. Das Konzept der zweisprachigen Erziehung greift die Tatsache auf, daß die Schüler sehr unterschiedliche Kommunikationssysteme für die Verständigung innerhalb ihrer Gruppe und mit Normalhörenden verwenden. Im Unterricht, insbesondere im Sachunterricht, soll die größere Effektivität von Gebärdensprache genutzt werden.
Für die untersuchte Klasse ist ein‘real vorhandener’ Bilingualismus festzustellen. So werden viele Äußerungen in den jeweils anderen Kanal übersetzt. Eine einfache Übertragung der Kommunikationsform der Gehörlosen auf die Starkschwerhörigen scheint mir aber nicht sinnvoll.
Oraler Kanal der Gebärdensprache
Einige Forschungsarbeiten der letzten Zeit rücken von einer strikten Trennung zwischen reiner Laut- und reiner Gebärdensprache ab. Anlaß hierfür sind Untersuchungen zum Mundbild in Äußerungen deutscher und schweizer Gehörloser(Boyes-Braem 1988d; Ebbinghaus & Heßmann 1989; 1990; vgl. auch schon Tervoort 1953, 255).
Boyes-Braem(1988d, 71) und Ebbinghaus& Heßmann(1989, 92-98) heben dabei Abweichungen vom Mundbild beim Sprechen hervor: Mundbilder, die eine Gebärde begleiten, sind stimmlos; oft wird nur die erste Silbe geformt, manchmal erfolgt eine Dehnung über die ganze Zeitdauer der begleitenden Gebärde oder die Gebärde wird gemäß der Silbenzahl des Wortes rhythmisiert; es werden nur bestimmte deutsche Wörter aufgenommen(Ebbinghaus& Heßmann 1989, 94).
In den aufgezeichneten Filmen finden sich aber nur an wenigen Stellen Mundbilder ohne Stimme. Auch die anderen beschriebenen Abweichungen konnte ich nicht feststellen.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1992
Boyes-Braem(1988d, 70f.) nennt vier
Arten, wie die orale Komponente und
manuale Zeichen aufeinander bezogen
sein können:
1)“Das mit den Lippen stimmlos gesprochene Wort kann die gleiche Bedeutung haben wie die gleichzeitige Gebärde”;
2) oder es“fügt das stimmlos gesprochene Wort der Gebärde eine Präzisierung hinzu”;
3) oder es“wird die orale Komponente gar nicht von einer Gebärde begleitet. Das geschieht meistens, wenn dem Gebärdenden für einen bestimmten Begriff die entsprechende Gebärde fehlt; häufig kommt dies bei Namen unbekannter Leute und Orte vor.”
4) oder es“kann auch der Gebärde eine andere oder zusätzliche Bedeutung geben”.
Semantische Bezüge bei gemischter Verwendung der Kanäle
Der Transkriptionskorpus umfaßt ca. 1400 Äußerungssegmente(kleinste Sprechhandlungseinheiten), davon enthalten 795 sowohl Worte als auch Gebärden. Die Schüler der untersuchten Klasse verwenden also bei den meisten ihrer Äußerungen eine Mischung beider Kanäle.
Die Auswertung erfolgte in Anlehnung an das Klassifikationsschema von BoyesBraem(1988d, 70).
Aus Abbildung 1(s. S. 170) ist ersichtlich, daß insgesamt 65%(31%+ 34%) der gemischten Äußerungen durch eine rein lautsprachliche und bei 38%(31%+ 7%) durch eine rein gebärdensprachliche Interpretation alle Lexeme erfaßt werden kann. Bei insgesamt 27%(21%+ 6%) ist dies nur bei gleichzeitiger Beachtung beider Kanäle möglich.
Eine feinere Subkategorisierung der beteiligten Äußerungen soll die Phänomene der Mischung transparent und dadurch problematisierbar machen.(Für eine weitgehend vollständige Darstellung siehe Heeg, 1991, 146-152.)