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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Paul Heeg+ Beziehung von akustischem und visuellem Kanal bei stark schwerhörigen Schülern

MENGriechenland FAHREN;Chi­na MUSCHEL BLUME KOMMT ­RAUS), ebenso Zahlen und die Worte Kindergarten undTag. PERLE und MUSCHEL werden in lautsprachliche Sätzeeingebettet:ganz KLEINE PER­LE;und dann suchen MUSCHEL. Gebärden präzisieren überwiegend lautsprachliche Äußerung(z.B.da AUTO kommt LINKS;MANN und Frau DORT;ALLES Schwarz QUALM).

Bei den wechselseitigen Erklärung von Lautsprache und Gebärde ist für mich die angeführte Unverständlichkeit einer iso­lierten Betrachtung beider Äußerungs­kanäle am deutlichsten. Beispiele:Auf­passen DU_MUSST;und dann suchen MUSCHEL; FRONTSCHEIBE SCHEI­BENWISCHERkaputt.

Abfolgen von Handlungen werden in verschiedenen Kanälen geäußert, z.B.: wacht auf GEHEN.

Präzisierungen, Erklärungen oder Ergän­zungen erfolgen in unterschiedlichen Kanälen. Beikommt näher beide-Au­tos-NÄHER werden die Objekte der An­näherung ergänzt. Beidu fährst Auto AUTO-DU KANN wirdfahren als Autofahren können erklärt. Beiauto­rolla MASCHINENGEWEHR findet eine Ergänzung um die Bewaffnung der Motorroller mit Maschinengewehren statt.

Durch gleichzeitige Verwendung beider Kanäle können komplexe Sachverhalte prägnant ausgedrückt werden. Bsp.: Paul kann filmen SEHEN. SEHEN undfilmen werden gleichzeitig geäu­Bert. In dem Satz bezieht sich das SE­HEN unmittelbar auf meine Möglichkei­ten, zu filmen. Norbert bringt zum Aus­druck, daß ich eine gute Sicht zum Fil­men habe. Dieses Schema findet sich auch in den folgenden Beispielen, die spontan leichter verständlich sind:Nor­bert guckmal KOMM_HER;Moment NOCH_EINMAL.

Lautsprachliche Hinweise auf das Gebärdete

Bei 50 Kodierungen erfüllt ein laut­sprachlicher Anteil die Funktion der Fo­

kussierung bestimmter Aspekte einer ge­bärdeten Äußerung.

Mit akustischen Mitteln wird Aufmerk­samkeit gesucht. Verwendet werden Verben des Sehens(z.B. WEITeh schau mal AUTO_FAHREN WEIT) oder das Wortso(z.B.:so TUCH_UM_­KOPF).

Gebärden werden systematisch mit be­stimmten Lauten kombiniert(z.B."ah" KAPUTT; FERTIG"ppft"). Bestimmte Laute drücken Vergnügen(SCHWIM­MEN HEREINTAUCHEN"hihi") oder Freude(lalala") aus. Es gibt relativ sta­bile Verbindungen zwischen Gebärde und lautmalerischer Äußerung(z.B. BREM­SEN"RrRr"; GEWEHR"prpr"; WER­FEN"jojo"; SCHIMPFEN"kuluku").

Gebärdensprachlicher Hinweis: der Mundbildmarker

In der bisherigen Gruppierung nicht er­faßt sind spezielle Zeigehandlungen mit indirektem Zeichencharakter.

Während des Sprechens zeigen die Schü­ler auf ihren Mund und sprechen dabei den Namen einer abwesenden Person. Hierdurch wird der Gesprächspartner ver­anlaßt, kurzzeitig konzentrierter dem Mundbild des Sprechers zu folgen. Diese Zeichenkombination ersetzt m.E. die Namensgebärden, wie sie viele Ge­hörlose verwenden.

Erklärungen

Einzelne Phänomene dieser Mischung lassen sich mit einer Reihe weiterer Merkmale der untersuchten kindlichen Äußerungen in Verbindung bringen.

Phonetik: Anrufe und Schreie der Kin­der sind an ihre sinnesphysiologische Situation angepaßt. In Heeg(1991, 109­113) wird mittels Fourieranalyse für ei­nige Laute eine entsprechend stark ver­einfachte Formantstruktur nachgewiesen. Diese Laute illustrieren zumeist eine gleichzeitige Gebärde(zusätzliche Kon­notation). Man kann sich dabei das Ver­hältnis der beiden Kanäle als Umkehrung des Verhältnisses von sprachlicher Äu­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII Heft 4, 1992

Berung und begleitender Handbewegung bei Normalhörenden vorstellen. Parallel zur akustischen Phonemwahr­nehmung existieren Mundbilder, die ein Ablesen einiger Lautgruppen ermögli­chen(Alich 1960; Erber 1974). Wichtig­ste Voraussetzung hierfür ist der Blick­kontakt. Nach seiner Herstellung werden differenzierte lautsprachliche Äußerun­geneingesetzt. Der Mundbildmarker kann dabei die Konzentration unterstützen.

Lexikon: Die Transkripte enthalten ins­gesamt 3344 gesprochene Wörter mit 402 unterschiedlichen Worten und 1272 Gebärden, die sich auf 303 unterschied­liche Lexeme verteilen. Damit taucht je­des Wort 8,3 mal, jede Gebärde aber nur 4,2 mal auf(vgl. das Maß Type-Token­Ratio). Eine Einteilung in Inhaltsbereiche (Heeg, 1991, 114-118) zeigt bei Worten zum Stellen und Lösen schulischer Auf­gaben 71 Worte(18% von 402) und nur 22 Gebärden(7% von 1272). Bei den außerschulichen Themen sindes 72 Worte (20%) und 130 Gebärden(43%).

Diese Zahlen zeigen m.E. das Ergebnis einer nicht natürlichen sondern systema­tischen Anbahnung von Lautsprache. Für über das eingehend Geübte hinausgehen­de Äußerungsbedürfnisse wird auf den reichhaltigeren Gebärdenwortschatz zu­rückgegriffen. Ohne den Wechsel des Kanals können die Kinder über viele außerschulische und persönliche The­men nicht kommunizieren(vgl. Voit 1977).

Syntax: Vom Nominativ abweichende Kasusformen werden in den Transkripten von den Schülern nicht verwendet(einzi­ge Ausnahme:auf dem FAHRRAD). Die Anzahl von Präpositionen und Kon­junktionen ist reduziert. Es findet sich häufig eine syntaktisch freie Stellung (Abweichung von der Zweitstellung des Verbs; keine Spannsätze; Adjektiv häu­fig hinter dem Substantiv). Wie im Deut­schen spielt das Verb eine herausragende Rolle im Satz. Die Sonderrolle des Satz­subjekts ist aber aufgehoben. Das Subjekt ich wird häufig ausgelassen,du kann ausgelassen werden.

Für die Gebärdensprache existiert ein System von Inkorporationen, das die Fle­

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