xionen der Lautsprache ersetzt: Die Beziehungen von thematischen Begriffen werden durch die Äußerungsrichtung oder Positionierungen im Raum(Gebärdenraum) realisiert(Boyes-Braem, 1988b). Eine Kopula(“ist”) fehlt. Tempus wird durch spezielle Morpheme(SPÄTER und FRÜHER) markiert. Solche Phänomene finden sich sehr häufig in den Transkripten. Eine kanalübergreifende Beugung etwa im Sinne einer visuellen Positionierung eines nur gesprochenen Wortes wurde nicht festgestellt. Es gibt aber das Phänomen, daß eine grammatikalisierte gebärdete Variante von einer weniger grammatisch markierten gesprochenen gefolgt wird z.B.: zwei-mal-SCHLAFEN “ZWEI SCHLAFEN”,
Pragmatik: Systematische Beziehungen zwischen in der Kommunikation eingesetzten sprachlichen Mitteln und Merkmalen der Sprechsituation(vgl. Auwärter 1982; Piontkowski 1988, 10-34) zeigen zwei Sprachvarianten. Mit einer lautsprachlich orientierten Sprache erfolgt Kommunikation mit der Lehrerin oder für die Lehrerin, visuelle Zeichen ohne Stimme werden für das Schwätzen eingesetzt.
Es wurden 20 Minuten ausgewertet, in der die Lehrerin nacheinander mit 3 Schülern arbeitet, während die anderen beiden einer Stillarbeit nachgehen(sollen). Abbildung 2 zeigt, daß 70% der Worte
Adressat| akustisch visuell beides|Summe
Thomas 117 Norbert 49 Tarık 68
88 123 23 234
Abb. 2: Äußerungen der drei Schüler
und 30% der Gebärden an die Lehrerin gerichtet sind. In einer solchen Situation wechseln die Schüler ihren überwiegend verwendeten Kanal.
Abbildung 3 zeigt individuelle Unterschiede bei der Wahl der Kanäle durch die drei Schüler: 83% der Lexeme von Thomas beinhalten den visuellen Kanal (Norbert 47%, Tarik 38%). Bei Norbert
172
Paul Heeg* Beziehung von akustischem und visuellem Kanal bei stark schwerhörigen Kindern
Adressat| akustisch visuell beides
Summe
Abb. 3: Adressaten der drei Schüler
findet sich ein klares Umschalten zwischen visuellem und akustischem Kanal je nach Gesprächspartner(Thomas oder Lehrerin).
Konsequenzen
Die spezifische Art der Verwendung von visuellem und akustischem Kanal bei einzelnen Schülern kann mit der verwendeten Methodik auch in anderen Situationen spezifiziert werden. Ein mühsamer und faszinierender Verstehensvorgang von Schüleräußerungen ist notwendig, wenn die natürlichen Schattierungen der Kommunikationsbehinderung Schwerhörigkeit nicht ausgeblendet werden sollen. Die Sinnhaftigkeit der extrem ‘fehlerhaften’ Äußerungen kann durch den Nachweis spezifischer Strukturen belegt werden, mit denen soziale Handlungen durchgeführt werden(Mehan, 1979).
Dabei kann es notwendig sein, scheinbar feststehende linguistische, pädagogische oder common sense-Prinzipien abzulegen.
Als(Zwischen-)Ergebnis dieses Weges für eine kleine Gruppe entstand die These einer neuen Regelhaftigkeit, mit der ein besseres Verstehen stark schwerhöriger Kinder möglich sein kann. Ein erheblicher Teil der Schüleräußerungen ist weder auf dem akustischen noch auf dem visuellen Kanal allein verständlich. Mitteilungen der untersuchten Schüler sind für Normalhörende ohne Erfahrung mit Hörgeschädigten spontan nicht verständlich, auch umgekehrt verstehen die Schüler diese nur mit großen Problemen. Durch die beobachtete besondere Integration von akustischem und visuellem Kanal existiert unter den Schülern aber eine spontane und effektive Verständigung.
Der visuelle Kanal spielt dabei eine besondere Rolle für die Grammatikalisierung der kindlichen Sprache, die als zentral für den Erwerb von Sprachkompetenz angesehen werden kann. Gebärden ermöglichen zudem Kommunikation über außerschulische Dinge und damit ein Hinausgehen über das Hier und Jetzt der schulischen Situation. Die Kinder verwenden beide Modalitäten in häufig komplementärer Weise, weil sie(etwas) Lautsprache benutzen können und sollen, aber ohne Gebärden über viele Dinge nicht kommunizieren können.
Ungeklärt bleibt die Frage nach dem linguistischen Status dieses Kommunikationsmittels als Sprache. Einerseits wurden eine Reihe von Merkmalen von Lautund Gebärdensprache festgestellt, bei denen man von‘Anleihen’ aus einem der Systeme sprechen kann. Die besonderen Regelhaftigkeiten können aber auch die Keimzelle für eine eigenständige Sprache im engeren Sinne darstellen.
Die Entwicklungsdimension des Phänomens muß noch untersucht werden: Wie verändert sich diese kindliche Kommunikationsform zur Sprache der erwachsenen Schwerhörigen? Nach meinem pauschalen Eindruck vermindert sich bei Anwesenheit Normalhörender die beobachtete Mischung der Kanäle. Berichtet wird von einer Lebensentscheidung für die Welt der Hörenden oder die der Gehörlosen.
Die Entwicklung der Kommunikationsmittel hängt neben dem Erwerb linguistischer Kompetenz zur Befriedigung von Äußerungsbedürfnissen von sozialen Normen ab. Die Schule vertritt das Ideal der Heranführung ihrer Schüler an die Lautsprache. Seitens der meisten Eltern liegt das Hauptaugenmerk auf der Frage: ‘Wann lernt mein Kind so sprechen, daß alle es verstehen?’ Sie unternehmen vieles, um ein‘Abrutschen in die Gehörlosigkeit’ zu verhindern. Zwischen den Schülern besteht eine starke Konkurrenz bezüglich der Frage, wer am besten sprechen kann. Diese einseitige Ausrichtung am Ideal der Normalhörenden birgt aber eine erhebliche Gefahr des Scheiterns besonders für die Gruppe derjenigen, die weniger hören.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1992