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zu erfassen(...) und zum anderen mit Hilfe der Gesprächsanalyse das sprachliche Handeln(wozu auch kommunikative Absichten gehören) zu beschreiben”(S. 115). Da kommunikative Absichten nicht direkt beobachtbar sind, haben Taxonomien zu ihrer Erfassung nach Heidtmann u.a. den Nachteil, daß“eine Zuordnung zu einer bestimmten Kategorie oft schwer(fällt)”(S. 116). Hinzu kommt die“einseitige Beschreibung von sprachlichen Aspekten eines Kommunikationspartners”(S. 117), weshalb Heidtmann zusammenfassend festhält,“daß Kategoriensysteme zur Erfassung kommunikativer Absichten nicht von den kindlichen Äußerungen ausgehen sowie den Handlungszusammenhang und Interaktionsverlauf nicht berücksichtigen. Deshalb stellt Heidtmann im folgenden dar,“wie diese Aspekte von der Gesprächsanalyse behandelt werden”(S. 118). Ausgehend von der Konversationsanalyse(Kallmeyer& Schütze, 1976) werden verschiedene Kategorien für die Gesprächsanalyse herausgearbeitet und das Vorgehen ausführlich an einem Beispiel demonstriert, das Heidtmann zusammen mit Iris Füssenich bereits 1984 an anderer Stelle publiziert hat. Ein Vorteil der Gesprächsanalyse besteht, neben der Analyse der kindlichen Absichten und Äußerungen, in der Möglichkeit, auch das Gesprächsverhalten des Sprachtherapeuten reflektieren zu können.
Im abschließenden Kapitel(Kap. 6) unterstreicht Heidtmann noch einmal, daß freie Sprachproben“eine neue methodische Möglichkeit der Diagnostik” darstellen, wobei sie auch auf damit verbundene Problembereiche hinweist. Um dem Sprachdiagnostiker die Erhebung, Transkription und Analyse freier Sprachproben zu erleichtern, schlägt die Autorin vor, ein“Übungsbuch sowie detailliertere Beispielanalysen” zusammenzustellen, und sie schließt mit dem Vorschlag:“In einem weiteren Schritt könnten sich therapeutische Überlegungen bzw. eine Dokumentation ausgewählter therapeutischer Sitzungen anschließen”(S. 142).
Der von Heidtmann vorgeschlagene— sicherlich nicht neue— Weg, freie Sprachproben zu erheben und zu analysieren, ist ausdrücklich zu begrüßen. Ebenfalls zu begrüßen wäre es, wenn in vielen Bereichen der Entwicklung— so auch in der Sprache, die Beschreibungen der kindlichen Fähigkeiten aus der Perspektive des Kindes und nicht nur von den Endpunkten der Entwicklung aus betrachtet werden(vgl. Deutsch, 1983), wie dies bei den hier vorgeschlagenen“linguistischen Analysen” angestrebt wird. Um eine solche Metho
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de zu propagieren, hätte es aber einer Legitimierung durch eine unangemessene Kritik an einem anderen— und wie ich meine, nach wie vor relevanten und begehbaren— Weg nicht bedurft. Die Autorin hätte uns diese Abgrenzung ersparen können und das Buch als das kennzeichnen können, was es m.E. ist: eine Anleitung für eine diagnostische Methode, nämlich die Erhebung, Transkription und Analyse von freien Sprachproben. Daß diese Methode nicht hinreichend sein kann für eine umfassende Sprachdiagnostik, ergibt sich schon allein aus der Tatsache, daß es— wenn überhaupt— nur in sehr begrenztem Maße Aussagen über rezeptive Prozesse bei der Sprachverarbeitung zuläßt, die aber unbestritten ein integraler Bestandteil einer umfassenden Sprachentwicklungsdiagnostik sind.
Eine fundierte, ernstzunehmende Kritik an Tests(die in der Forschung durchaus vorhanden und auch berechtigt ist) ist bei Heidtmann nicht aufzufinden, die prinzipielle Ablehnung von Tests wird durch eine polemische und wertende Begrifflichkeit vorgenommen. Die den Tests mit positiv wertenden Begriffen gegenübergestellten freien Sprachproben werden sehr unreflektiert als einziger Weg angepriesen. Seit dem gefeierten Einzug solcher Methoden in die Sprachdiagnostik haben sich zwischenzeitlich nicht nur in der Praxis einige Probleme ergeben: So ist die Frage der therapeutischen Relevanz dieses enorm zeitkonsumtiven Verfahrensnicht klar, die möglichst“naturgetreue” Nachbildung der Wirklichkeit— das Anstreben einer gewissen Verdoppelung der Wirklichkeit— führt von alleine noch nicht dazu, daß sie zu einer Diagnose(und im besonderen auch zu einer Differentialdiagnose) führt und somit die Grundlage für angemessene therapeutische Maßnahmen bildet. Es bleibt zu hoffen, daß Hildegard Heidtmann mit ihrer Darstellung den freien Sprachproben keinen Bärendienst erweist. Freie Sprachproben sind als eine wichtige, weitere, komplementäre Methode zur Sprachentwicklungsdiagnose sehr zu begrüßen. Für eine Reihe von Zielsetzungen mögen sie sogar den geeignetesten oder angemesseneren diagnostischen Weg darstellen, sie aber als einen neuen und einzigen Weg anzupreisen, dies entspricht weder dem Stand der Forschung noch den Möglichkeiten, die sich mit dieser Methode bieten. Ein Beispiel für die Komplementarität der beiden methodischen Zugangsweisen möge dies unterstreichen: Harald Clahsen, ein vehementer Befürworter freier Sprachproben, der die Profilanalyse in den deutschen Sprachraum eingeführt hat, entwickelte im Laufe
seiner Erhebungen zum kindlichen Dysgrammatismus zusätzlich Verfahren, die den hier abgelehnten Tests sehr nahe kommen. Den Kindern werden Aufgaben gestellt, die gezielt bestimmte sprachliche Normen entlocken sollen(”Elizitationstechniken“). Gerade bei Sprachentwicklungsstörungen kann sich nämlich die freie Sprachprobe als ungeeignetes Verfahren erweisen, um“eine umfassende linguistische Analyse” zu gewährleisten. Viele der Kinder haben Strategien entwickelt, um mit möglichst wenig sprachlichen Mitteln zu kommunizieren, sie vermeiden viele sprachliche Strukturen. Man würde sozusagen mit dem Mikrofon in der Hand auf bestimmte sprachliche Formen warten und darüber— wie es so schön heißt— altund grau werden können. Die Polarität der beiden methodischen Zugangsweisen, die im Buch von Hildegard Heidtmann aufgebaut wird, muß nach meinem Dafürhalten durch eine Komplementarität ersetzt werden. DiCchotom argumentierende Positionen sollten zum Wohl der diagnostizierten Kinder überwunden werden.
Fußnoten
1 In dem Buch finden sich keine Richtigstellungen von Kritikpunkten, die widerlegt werden konnten und die aus Ignoranz oder aus Unkenntnis über deskriptive und inferenzstatistische Verfahren herrühren. Um meine Wertung zu belegen, möchte ich beispielhaft zwei Punkte herausgreifen, die von Heidtmann selbst angeführt werden.
(1) Sie schreibt:“Aus eigenen Untersuchungen mit dem H-S-E-T an sprachentwicklungsgestörten Kindern läßt sich als Fazit festhalten, daß der H-S-E-T zur Diagnose von Sprachentwicklungsstörungen ungeeignet ist”(S. 10). Einmal abgesehen davon, daß es eine Reihe von Untersuchungen gibt, die eindeutig das Gegenteil belegen, wird diese Aussage dadurch untermauert, daß die Autorin die fehlende Aussagekraft eines von ihr erstellten Durchschnittsprofils von 112 sprachentwicklungsgestörten Kindern mit den Profilen von zwei Kindern aus der gleichen Stichprobe konfrontiert, die starke Profilabweichungen nach oben bzw. nach unten von diesem Durchschnitt aufweisen. Neben der mangelhaften Kenntnis über die Aussagekraft von statistischen Kennwerten, die hier zum Ausdruck kommt, ist die Stichprobe von Heidtmann(1982) in keiner Weise als homogen und/oder repräsentativ im Hinblick auf irgendeine spezifische Sprachentwicklungsstörung zu betrachten, sondern stellt eine unausgelesene Stichprobe von Kindern dar, die als gemeinsames Merkmal den Besuch einer Schule für Sprachbehinderte aufweisen. Es gilt heute als unumstritten, daß sich selbst hinter ähnlichen Erscheinungsbildern(z.B. bei der“spezifischen
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1992