Buchbesprechungen
Sprachentwicklungsstörung”, auch als“Entwicklungsdysphasie” oder‘“kindlicher Dysgrammatismus” gekennzeichnet) eine große Heterogenität verbirgt. Warum sollten also individuelle Profile durch das Durchschnittsprofil einer heterogenen Gruppe repräsentiert sein?
(2) Als ein“Kuriosum” betrachtet Heidtmann das Ergebnis einer differentialdiagnostischen Studie, in der Stammler von Dysgrammatikern aufgrund der H-S-E-T-Ergebnisse diskriminiert werden konnten:“M.E. kann man diese Aussage nur als Kuriosum betrachten, da der H-S-E-T in keinem Untertest den phonetisch-phonologischen Bereich überprüft und zudem ein Test zur Differenzierung zwischen Stammeln und Dysgrammatismus überflüssig ist, da diese allein aufgrund unseres Sprachgefühls[Hervorhebung durch den Verf.] erfolgen... kann” (S. 10). Ich möchte dazu nur auf die Unterscheidung zwischen organischem und funktionellem Stammeln und auf die Beobachtung hinweisen, daß nahezu alle als dysgrammatisch diagnostizierten Kinder stammeln, dies gilt nicht umgekehrt.
? Noch ein Wort zur“Natürlichkeit“: Ich bezweifle nicht, daß Situationen, in denen Kinder mit Erwachsenen interagieren, angenehmer für das Kind sein können, wenn dieses die Zeit für Interaktionen o.a. selber bestimmen kann.“Es kann Strategien entwickeln, den Interaktionspartner als gleichberechtigten Teilnehmer verstehen, dominieren wollen, nicht kooperativ sein wollen, etc.”(S. 18). Warum werden Regeln für die Beobachter aufgestellt, wie sie sich am natürlichsten verhalten, wenn es doch um natürliche Interaktionen geht?“Wird eine Situation alleine schon dadurch natürlicher, daß anstelle eines standardisierten Tests eine nicht-standardisierte Beobachtung tritt? Wir bezweifeln dies, denn auch eine nicht-standardisierte Situation kann von einem Kind durchaus als Untersuchungssituation erlebt werden. Das ist übrigens nicht negativ zu bewerten, solange, und dies gilt hier wie für die Testsituation, daraus keine Belastung für das Kind entsteht”(Grimm& Schöler, 1985, S. 40).
3 Diese Phasenzuordnung ist gerade ein wesentlicher Kritikpunkt an der Profilanalyse(vgl. u.a. Kaltenbacher, 1985).
Literatur
Angermaier, M.(1974). Psycholinguistischer Entwicklungstest PET. Weinheim: Beltz. Bloom, L.& Lahey, M.(1978). Language development and language disorders. New
York: Wiley.
Clahsen, H.(1986). Die Profilanalyse. Berlin: Marhold.
Deutsch, W.(1983). Theorien des Spracherwerbs. In G. Lüer(Hrsg.), Bericht über den 33. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Mainz 1982(S. 290-297). Göttingen: Hogrefe.
Ehlich, K.& Rehbein, J.(1976). Halbinterpretative Arbeitstranskripiionen(HIAT).
194
Linguistische Berichte, 45, 21—41.
Ehlich, K.& Rehbein, J.(1979). Erweiterte halbinterpretative Arbeitstranskriptionen (HIAT 2): Intonation. Linguistische Berichte, 59, 51—75.
Götte, R.(1976). Landauer Sprachentwicklungstest für Vorschulkinder LSV. Weinheim: Beltz.
Grimm, H.& Schöler, H.(1978). Heidelberger Sprachentwicklungstest H-S-E-T. Göttingen: Hogrefe.
Grimm, H.& Schöler, H.(1985). Sprachentwicklungsdiagnostik. Göttingen: Hogrefe.
Hansen, D.(1983). Linguistische Analyse von Spontansprachproben— Ein Beitrag zur Erforschung abweichender Sprachstrukturen im Bereich der Syntax. Unveröff. Examensarbeit, Universität Köln.
Heidtmann, H.(1982). DFG-Arbeitsbericht. Dortmund: Universität, Unveröff. Manuskript.
Kallmeyer, W.& Schütze, f.(1976). Konversationsanalyse. Studium Linguistik, 1, 1-28.
Kaltenbacher, E.(1985). Rezension: Harald Clahsen: Spracherwerb in der Kindheit. Linguistische Berichte, 95, 73-80.
Leonard, L.B., Steckol, K.F.& Panther, K.M. (1983). Returning meaning to semantic relations: some clinicla applications. Journal of Speech and Hearing Disorders, 48, 25-36.
Prof. Dr. Hermann Schöler, Heidelberg
Romonath, Roswitha: Phonologische Prozesse an sprachauffälligen Kindern. Berlin: Edition Marhold im Wissenschaftsverlag V. Spiess. 1991.
Das Buch(Untertitel: Eine vergleichende Untersuchung an sprachauffälligen und nichtsprachauffälligen Vorschulkindern) ist, wie bei Dissertationen” häufig anzutreffen, sehr umfangreich und besteht eigentlich aus zwei Teilen:
In einem ersten theoretischen Teil(212 Seiten) wird zunächst die Bedeutung der Phonologie, insbesondere im Hinblick auf die Sprachpathologie(Kap. 1) herausgearbeitet; Theorien werden dargestellt, wobei der“natürlichen Phonologie” von Stampe besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird (Kap. 2); Modelle der internen Repräsentation und ihre psychologische Realität werden diskutiert(Kap. 3); phonologische Prozesse werden beschrieben und klassifiziert (Kap. 4); der normale Aneignungsprozeß phonologischer Strukturen, so wie er dem rezenten Stand der Empirie und der Theo
riebildung entspricht, wird dokumentiert und diskutiert(Kap. 5); der normalen werden anschließend Störungen der phonologischen Entwicklung gegenübergestellt(Kap. 6).
In einem zweiten empirischen Teil(230 Seiten) wird über eine Untersuchung berichtet, in der 35 Vorklassenkinder mit einer Gruppe von 34 normal sprachentwickelten Kindern im Hinblick auf die Produktion einzelner vorgegebener Wörter verglichen wurden (Kap. 7); abschließend wird ein Forschungsausblick(Kap. 8) gegeben.
Wesentliche Ergebnisse der Untersuchung sind: Die Sprachkorpora der sprachauffälligen Kinder weisen— wie erwartet— eine höhere Anzahl phonologischer Prozesse auf als bei den sprachunauffälligen Kindern, wobei aber“alle Prozesse sowohl bei Sprachauffälligen wie bei Nichtsprachauffälligen zu Lautsegmenten(führen), die als Sprachlautklassen der Standardsprache oder des Berliner Dialekts identifiziert werden konnten”(S. 387). Die Annahme einer“Strukturaffiziertheit phonologisch devianter Kindersprache” wird durch die Befunde gestützt. Die phonologischen Strukturen beider Gruppen sind als regelgeleitet beschreibbar und stellen“eine Reflexion universeller Prozesse” dar.“Sie divergieren durch qualitativ und quantitativ abweichende Strukturmerkmale im Auftreten phonologischer Prozesse” (S. 429). Ein methodisch relevantes Ergebnis ist: Bei der Analyse spezifischer phonologischer Merkmale sind Imitationsdaten genauso verläßlich wie Spontansprachdaten. Die Autorin schlußfolgert aus den Ergebnissen,“daß der normale wie abweichende Spracherwerbsprozeß universelle Muster aufweist, die aber nicht nur sprachspezifisch sind, sondern kategorial allen diachronen und synchronen Lautwandelphänomenen zugrunde liegen”(S. 439). Die“Natürliche Phonologie” hat sich bei der Analyse der Daten als ein geeigneter Rahmen erwiesen. Das Buch überzeugt— trotz seines Umfanges — durch die Klarheit der Darstellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem theoretischen Teil. Die empirische Untersuchung ist sorgfältig geplant: die Stichprobenauswahl, ebenso wie die Selektion der Elizitationswörter sind begründet, die Transkription und die Auswertung sind für den Leser nachvollziehbar und angemessen. Die Autorin ist selbst sehr vorsichtig im Hinblick auf eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse und schränkt diese ein, wobei sie gleichzeitig sinnvolle Vorschläge für ergänzende Untersuchungen ungerbreitet.
“Die Arbeit ist als Versuch konzipiert, für eine spezifische Art der Sprachstörung durch
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1992