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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Editorial: Integration und empirische Foschung

Von Hans-Peter Langfeldt

Dieses Heft der HEILPÄDAGOGI­SCHEN FORSCHUNG ist dem Thema Integration gewidmet. Etwas ausführ­licher formuliert: Es enthält Ergebnisse empirischer Forschung im Zusammen­hang mit Fragen der gemeinsamen Er­ziehung und Unterrichtung behinderter und nicht behinderter Kinder und Ju­gendlicher.Empirisch ist hier weit gefaßt im Sinne vonauf Erfahrung be­gründet und bedeutet mehr als nur quantitativ-statistisch, Erfahrungsbe­richte, Überblicke oder Analysen bereits publizierter Untersuchungsberichte ge­hören ebenso dazu wie Einzelfallstudien auf der Grundlage intersubjektiv prüfba­rer Daten. Lediglich ausschließlich pro­klamatorische Beiträge wurden nicht aufgenommen.

Zusammengenommen handelt es sich um pädagogische Evaluationsforschung, die langfristig mindestens zwei Fragen zu beantworten hat:

1. Welche Voraussetzungen fördern oder hindern integrative Erziehung und Unterrichtung?

2. Welche Folgen haben integrative und separierende Erziehung und Unter­richtung?

Die Beiträge dieses Heftes versuchen, jeder auf seine Weise und in unterschied­lichem Maße, darauf(vorläufige) Ant­worten zu geben. In der deutschen(Sonder-) Pädagogik ist empirische Forschung nicht unumstrit­ten. Beim Problem der Integration kann die Entscheidung für oder gegen beglei­tende und/oder abschließende empirische Evaluationsforschung geradezu polemi­sche Brisanz gewinnen. Es besteht ein mehrfacher Legitimationsdruck. Neben der Argumentation, daß herkömmli­che empirische Forschung grundsätzlich nicht geeignet sei, pädagogische Fragen zu beantworten, weil sie vomfalschen . Menschenbild ausgehe(externes Argu­

ment), findet sich auch das interne Ar­gument, pädagogische Evaluationsfor­schung sei wenig wertvoll, weil sie grund­legenden Kriterien empirisch-experimen­tellen Arbeitens nicht genügen könne. Allein das Erscheinen dieses Themen­heftes zeigt, daß Herausgeber und Au­toren solche Argumente nicht für über­zeugend halten.

Selbstverständlich können empirische Befunde keine Entscheidung für oder gegen Integration erzwingen. Selbstver­ständlich kann aus ihnen nicht abgelei­tet werden, ob man Integration wollen soll oder nicht. Dies ist ausschließlich eine Frage der Weltanschauung, des Men­schenbildes oder der Ethik. Aber: Empi­rische Befunde können beschreiben, was geschieht, wenn man sich für oder gegen Integration entscheidet. Erst die Bewer­tung solcher Beschreibungen führt zu vernünftig begründeten Entscheidungen. Dabei wird es durchaus häufig so sein, daß unterschiedliche Personen ein und denselben Sachverhalt ganz unterschied­lich bewerten. Hierbei Klarheit zu schaf­fen, hilft nur der möglichst rationale Dis­kurs, Dieses Themenheft kann dazu ei­nen Beitrag leisten.

Die Möglichkeit unterschiedlichen Be­wertens empirischer Befunde schließt die Möglichkeit des vielfältigen Mißbrauchs mit ein, In Anlehnung an frührere ameri­kanische Literatur hat Wittmann(1985, S.190) fünf Varianten mißbräuchlicher Verwendung von Evaluationsforschung überhaupt aufgelistet:

(1)Die ‚Augenwischer-Variante(‚eye­wash) bezeichnet den Versuch, ein schlechtes Programm dadurch zu retten, daß für die Evaluation nur positive Aspekte des Programms auswählt werden,

(2) Die ‚Weiß-Wasch-Variante(‚white­wash) kennzeichnet den Versuch, Programmfehlschläge durch Vermei­dung von Objektivität zu kaschieren.

(3) Die ‚U-Boot-Variante(‚submarine)

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991

ist der Versuch, ein Programm durch das intensive Suchen ausschließlich negativer Resultate ‚abzuschießen. Die ‚Aufschub-Variante(‚postpone­ment) stellt den Versuch dar, not­wendiges Handeln aufzuschieben oder zu verzögern, unter der Vor­gabe, daß erst noch weitere For­schung für begründbares Handeln notwendig sei.

(5) Die ‚Schausteller-Variante(‚postu­re): Hierbei wird Evaluation als bloßes Ritual der Unparteilichkeit durchgeführt. Die Ergebnisse wer­den im echten Entscheidungsprozeß ignoriert.

(4)

Für das Problem der Integration hat Eber­wein(1984, S. 688) die bloße Möglich­keit des Mißbrauchs(nach Variante 4) bereits als Realität postuliert:Das Ab­warten- und Abrufen-Wollen von wissen­schaftlichen Ergebnissen aus sog. Modell­versuchen hat also reinen Verhinderungs­Charakter. Integration läßt sich nicht wissenschaftlich beweisen!(ähnlich noch einmal 1990, S. 291). Meines Er­achtens scheint die historische Entwick­

lung der Integrationsbewegung dieser

Einschätzung zu widersprechen.

Die Gefahr möglichen Mißbrauchs päd­agogischer Evaluationsforschung(nach welcher Variante auch immer) darf je­doch nicht dazu führen, sie einzustellen. Im Gegenteil, man kann stattdessen den Schluß ziehen, sie eher noch auszuwei­ten. Je mehr Forschungsprojektenach den Regeln der Kunst durchgeführt werden, desto schwerer dürfte es fallen, ihre Ergebnisse zu mißbrauchen oder zu manipulieren, Zwar ist kein wissenschaft­licher Autor vor dem Mißbrauch seiner Ergebnisse gefeit. Er kann jedoch deut­lich machen, wie er selbst seine Arbeit gewertet wissen möchte. Alle Autoren und Autorinnen der hier gesammelten Beiträge haben dies getan. Wiederum je­der auf seine Weise und in unterschied­lichem Ausmaß.

Aber was sind nundie Regeln der Kunst? Überblickt man dieCheckliste für pädagogische Evaluationsstudien