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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Ist die Schule für Lernbehinderte überholt?*

Von Lothar Tent, Matthias Witt, Wolfgang Bürger und Christiane Zschoche-Lieberum

Die pädagogische Wirksamkeit der Schule für Lern­behinderte(SfL) im Leistungs- und im emotionalen Bereich sowie im Arbeits- und Sozialverhalten wird in zwei vergleichbaren Gebieten mit deutlich ver­schiedener Sonderbeschulungsquote(SBQ) unter­sucht. An der Gesamtstichprobe(N= 118) werden regionale und schulartspezifische Besonderheiten überprüft. Eine nach Kennwerten parallelisierte Stichprobe(N= je 41) klärt ab, inwieweit die SBQ die Ausprägung der abhängigen Variablen beein­flußt. Netto-Effekte der Beschulungsart(SfL vs. Regelschule) soll eine Stichprobe von N= 18 streng parallelisierten Schülerpaaren aufdecken. Der Ein­fluß von Moderatorvariablen wird kontrolliert. Nur bei den Merkmalen‚Prüfungsangst, ‚,Begabungs­selbstbild und ‚‚,Einschätzung des Arbeitsverhal­tens deuten sich Vorteile der SfL an. Die Befunde werden im Hinblick auf die aktuelle Legitimations­krise der SfL diskutiert.

The educational effectivity of the special school for slow learners was examined by comparing achieve­ment and emotional variables as well as aspects of working and social behavior in two areas with dif­ferent quotas of pupils attending special schools. A total sample of 118 male and female slow learners was tested. Various moderator variables being con­trolled, two paralleled samples of N=41 and 18 pairs of pupils served to ascertain quota and schooling effects. Variables in favor of special schools were confined to test anxiety, self-concept of aptitude, and teacher ratings of working behavior. The results are discussed in view of the present debate on special schools raison detre.

Fragestellung

Die Einrichtung und Beibehaltung sepa­rater Bildungsstätten für(Lern-) Behin­derte ist nur gerechtfertigt, soweit ge­zeigt werden kann, daß die betroffenen Schüler tatsächlich besser gefördert wer­den, als dies der Fall wäre, wenn sie ge­meinsam mit Nichtbehinderten in Grund­und Hauptschulen(im folgenden un­scharfRegelschulen genannt) unter­richtet würden, ohne daß dies auf Ko­sten der Nichtbehinderten ginge. Ver­glichen mit derGründerzeit vor mehr als hundert Jahren haben sich die Rah­menbedingungen für den Unterricht in der Regelschule inzwischen deutlich ver­bessert. Die Gründe, die zur Einführung

* Herrn Prof. Dr. Richard G.E. Müller zum 80. Geburtstag gewidmet.

der Sonderschule führten.die unzu­reichende Förderung der Behinderten und die Beeinträchtigung der anderen in der Regelschule könnten ihre Gültig­keit(falls sie je gültig waren) eingebüßt haben.

Lernbehinderte Kinder sind besonders In der Entwicklung der kognitiven und sprachlichen Funktionen, im sozialen Verhalten und in der Differenzierung der Emotionalität im Rückstand(Amts­blatt des Hessischen Kultusministers 1978). Eine Voruntersuchung zu dieser Studie ergab, daß Sonderschullehrer in diesen Bereichen mehr als bei den Schulleistungen ihre Förderung für besonders effektiv halten(Bürger, 1987; Zschoche, 1988).

Die Überprüfung der Wirksamkeit des Sonderschulwesens ist in Deutschland verglichen mit der Forschung in den

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991

USA oder in skandinavischen Ländern noch rückständig. Den aktuellen For­schungsstand bis 1979 gibt Kniel(1979) in einer umfangreichen Metaanalyse wieder. Außer Merz(1982, 1984) liegen neuere Arbeiten aus der BRD, die vom inhaltlichen und methodischen Ansatz her geeignet sind, Aussagen über die pädagogische Wirksamkeit der SfL zu machen, kaum vor; die Befunde auslän­discher Studien können aufgrund der unterschiedlichen Schulsysteme auf die deutschen Verhältnisse nicht ohne wei­teres übertragen werden. Nur wenn Stich­proben vergleichbarer Regel- und Son­derschüler gegenübergestellt werden, las­sen sich tragfähige Aussagen über die pädagogische Wirksamkeit treffen.

Abgesehen von der z.T. nur geringen Zahl von Untersuchungen, den wider­sprüchlichen Befunden und dem Alter

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