Magdalene Kellner et al.+
Die Entwicklung eines geistigbehinderten Jungen
Die methodischen Einschränkungen hinsichtlich exakter Veränderungsmessungen ergeben sich nicht nur aus den äußeren Bedingungen der wissenschaftlichen Begleitung eines Schulversuchs, sondern sind weitgehend in dem Untersuchungsgegenstand selbst begründet(s. auch Eberwein 1988; Langfeldt 1988). Die Entwicklung eines geistigbehinderten autistischen Kindes ist unter den Bedingungen der integrativen Erziehung kaum planbar in einzelne Versuchspläne zu zerlegen. Die Probleme entstehen bei der Quantifizierung relevanter Merkmale innerhalb bestimmter Zeitabschnitte und vor allem dadurch, daß bei Ausgliederung von Teilaspekten der komplexe Prozeß des Unterrichtsgeschehens selbst entscheidend verändert würde. Daher erscheint es, auch im Sinne der ökologischen Validität(Bronfenbrenner 1978), durchaus angemessen, durch eine freiere und vielfältige Form der Befunderhebung zu Aussagen zu kommen, die sich stärker um eine beschreibende und qualitativ orientierte Darstellungsweise bemühen, ohne jedoch quantitative Aspekte und eine möglichst genaue Kontrolle der Bedingungen zu vernachlässigen.
Rolfs Entwicklung bis zur Einschulung
Nach perinatalen Hirnblutungen und Neugeborenensepsis entwickelte sich bei dem Frühgeborenen ein innerer Hydrocephalus, der ventilversorgt wurde, und im weiteren Verlauf ein Grand malAnfallsleiden. Seit Jahren treten keine Anfälle mehr auf; Rolf erhält antiepileptische Medikamente mit sedierender Wirkung. Nach einem ersten längeren Klinikaufenthalt(dem noch zahlreiche weitere folgten) kam er in ein Kinderheim, das ihn im Alter von drei Jahren an ein Heim für geistig und körperlich schwer behinderte Kleinkinder abgab. Zu diesem Zeitpunkt konnte Rolf weder stehen noch gehen, schrie viel und ließ niemanden an sich herankommen.
Heute lebt er nach wie vor in diesem Heim; seine Eltern halten keinen Kontakt zu ihm. Rolfs Hauptbezugsperson
ist seit Beginn seines Aufenthaltes in diesem Heim eine Kinderkrankenschwester, zu der Rolf eine dauerhafte und belastbare Beziehung aufbauen konnte. Durch entsprechende Förderung lernte er laufen und sprechen und wurde sauber. Er besuchte zunächst zwei Jahre lang eine Tagesstätte für körperbehinderte Kinder, später bis zu seinem Schuleintritt im Alter von sieben Jahren einen Regelkindergarten.
Bei seiner Einschulung in eine Integra
tionsklasse in Bonn-Friesdorf fallen bei
sonst altersentsprechender körperlicher
Entwicklung eine mangelnde motorische
Koordination und eine verkrampfte
Hand- und Armhaltung als Folge cerebra
ler Bewegungsstörungen auf, Für die
Diagnose Autismus sind im Rahmen
der Einschulungsuntersuchung folgende
Symptome maßgebend:
— Veränderungsängste und Beharrungstendenzen im motorischen Bereich sowie häufiges Wiederholen einfacher Handlungsabläufe
— Beharrungstendenzen im sprachlichen Bereich(Echolalie, intensive Selbstgespräche, abwechselnd mit langen Phasen völliger Ruhe)
— Scheu vor Körperkontakten sowie Auffälligkeiten im Blickkontakt
— vermutete Unterempfindlichkeit im auditiven und visuellen Bereich(genießt Lärm, verursacht ihn selbst durch Schreien, beschäftigt sich z.B. gerne mit dem Lichtstrahl einer Taschenlampe)
Positiv wird vermerkt, daß Rolf konzentriert und genau Handlungen anderer Kinder beobachtet und nachahmt. Auch geht er auf Kinder zu und nimmt, allerdings in teilweise aggressiver Form, Kontakte auf. Wird die Wiederholung bestimmter von ihm bevorzugter Tätigkeiten unterbunden, zeigt er Protestverhalten durch Schreien und Schimpfen. Selbständigkeit und aktiver Sprachschatz werden als relativ gut entwickelt beschrieben. Rolf verfügt über ein ausgesprochen gutes Gedächtnis und Empfinden für alles, was mit Musik zu tun hat und zeigt eine Vorliebe für den Umgang mit Wasser.
Rolf erweist sich zum Zeitpunkt der
Einschulung durchgängig als nicht test
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991
fähig. Auch im Rahmen des Sonderschulaufnahmeverfahrens verweigert er konstant jegliche Mitarbeit im Sinne einer Überprüfung oder Feststellung seiner Fähigkeiten oder Fertigkeiten. Der Gutachter kommt aufgrund seiner Beobachtungen und der Auswertung verschiedener Berichte zu dem Schluß, daß sehr viel Zeit und Geduld nötig sei, um Rolf als„‚mehrfach und auch geistigbehindertes Kind“ behutsam aus seiner Isolation herauszuführen, zu aktivieren Sowie emotional und sozial zu stärken,
Das Bild der Behinderung Rolfs entspricht weitgehend den von Dalferth (1986) in einer Synopse zusammengestellten Operationalisierungen des autistischen Syndroms, wobei letztlich nicht entschieden werden kann, was als Basisstörung anzusehen ist und welche der beschriebenen Auffälligkeiten eher als sekundär einzustufen sind,
Intellektuelle Fähigkeiten und basale schulische Fertigkeiten
Im Mittelpunkt der schulischen Förderung Rolfs steht im wesentlichen die Anbahnung von Basisfertigkeiten, um ihn an Lesen, Schreiben und Rechnen heranzuführen. Immer wieder stellt sich den Lehrerinnen die Frage, inwieweit man von einer Überlagerung seiner intellektuellen Leistungsfähgikeit durch die autistischen Symptome ausgehen muß,
Allgemeine Intelligenz und Merkfähigkeit
Im zweiten Schuljahr kann Rolf erstmals mit der Testbatterie für Geistigbehinderte(TBGB) getestet werden. Dieser Test wird im Abstand von jeweils 11/2 Jahren zweimal wiederholt. Die Ergebnisse finden sich in Tabelle 1.
In den beiden Testverfahren, die der Messung der allgemeinen Intelligenz zugeordnet sind, der Columbia Mental Maturity Scale(CMM) und den Bunten und Progressiven Matrizen(BM+ CM) erzielt Rolf bei der ersten Erhebung
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