Magdalene Kellner et al.+
sehr niedrige Werte. Im dritten und fünften Schuljahr erreicht er bessere Ergebnisse, die teilweise knapp dem Durchschnittsbereich entsprechen. Der Test„Befolgen von Anweisungen‘(BA) verweist auf Rolfs fast durchschnittliche und über die Jahre gleichbleibende Merkfähigkeit.
Sprachliche Entwicklung, Lesenlernen
Bei seiner Einschulung werden Rolfs Wortschatz und Satzbau als gut entwickelt beschrieben; er artikuliert meist verständlich, seine Selbstgespräche sind jedoch oft verwaschen.
Da Rolf zu Beginn des ersten Schuljahres in Bilderbüchern lediglich rein mechanisch blättert, ist es als großer Lernfortschritt anzusehen, daß er am Ende dieses Schuljahres abgebildete Dinge benennen kann. ‚Was ist das‘“-Fragen setzen ein, und so erweitert Rolf seinen Wortschatz stetig(s. Tab. 1, Wortschatztest der TBGB: Peabody Picture Vocabulary Test, PPVT). Hier ist das Lernen durch Imitation seiner Mitschüler besonders hervorzuheben. Teilweise übernimmt Rolf komplexe Sätze und Redewendungen, setzt sie aber nicht immer situationsangemessen ein, was durchaus zu Heiterkeit Anlaß gibt. Dieses Verhalten kennzeichnet auch heute noch Rolfs Sprache. In den ersten Grundschuljahren fallen sprachliche Rituale besonders auf: Er fragt z.B. täglich zu Beginn des Unterrichts, ob man heute turnen oder schwimmen gehe,
Spontan berichtet er keine Erlebnisse, ist jedoch durch Nachfragen dazu in der Lage, Erlebtes zu schildern, wobei auch hier Stereotype auftauchen. So kosten bei Rolf gekaufte Kleidungsstücke immer„vierzig Mark‘“‘,
Bereits im dritten Schuljahr beginnt Rolf, Buchstaben— zunächst rein mechanisch— zu benennen und schafft es bald, einige Silben(Konsonant und Vokal) zu erlesen. In der vierten und fünften Klasse kennt er fast alle Buchstaben; einige Wörter und Sätze liest er lautgetreu. Im Text erwähnte Gegenstände oder beschriebene Tätigkeiten ordnet er
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Die Entwicklung eines geistigbehinderten Jungen
Tabelle 1: Rolfs Ergebnisse in der TBGB (T-Werte)
Schuljahr 2: 3. 4.
Intelligenz
CMM 34 36 40
BM+ CM 26 33 40 Sprache
PPVT 33 36 40 Merkfähigkeit
BA 47 47 45 Motorik
KP 40 40 41
LOS 50 49 48
entsprechenden Bildern richtig zu. Aufgrund seines guten Gedächtnisses für akustisch dargebotene Inhalte und seines rhythmischen Gespürs lernt er kleine Texte, Reime oder Lieder, selbst fremdsprachliche, rasch auswendig und kann sie auch nach längerer Zeit noch reproduzieren. Dies stellt für den Prozeß des Lesenlernens eine gewisse Erschwernis dar, da Rolf bekannte Texte nicht mehr erliest, sondern rein mechanisch aufsagt.
Rolfs Tendenz, bevorzugte Inhalte und einmal Gelerntes ständig zu wiederholen, zeigt sich auch in anderen Bereichen. So lernt er im vierten Schuljahr, mit wenigen Strichen eine erkennbare Brille zu zeichnen. Fortan zeichnet er Brillen, sobald er ein Blatt Papier und einen Stift findet, spricht über dieses Thema, leiht sich die Brillen anderer Kinder oder Lehrer und ist kaum dazu zu bewegen, dieses Thema zu verlassen.
Form- und Farbwahrnehmung, Mengenauffassung, Zahlbegriff
Rolf beginnt im ersten Schuljahr mit dem Sortieren von geometrischen Grundformen. Diskrepanzen zwischen zwei Objekten erkennt er nur, wenn sie sehr kraß sind(groß— klein, laut— leise). Rangreihen kann er nicht bilden. Von den Farben kennt und benennt er im ersten Schuljahr lediglich schwarz, weiß und lila richtig, aber bereits in der dritten Klasse ordnet er alle Grundfarben
differenziert nach hell und dunkel. Er zählt bald mechanisch bis zehn.
Durch die Arbeit mit Montessori-Material (z.B. Zahlenschnüre, Spindeln) macht er gute Fortschritte hinsichtlich der Mengenauffassung. Im vierten Schuljahr kann er Teilmengen bis zehn abzählen und den entsprechenden Ziffern sicher zuordnen. Er schreibt die Ziffern 1 und 3. Im fünften Schuljahr zählt er bereits Mengen bis 20, bis drei erkennt er sie als Ganzheit. Er schreibt nun alle Ziffern ohne Vorlage und löst Additionsaufgaben im Zahlenbereich bis 12 mit Anschauungsmaterial(Mengentürme) selbständig.
Ab dem zweiten Schuljahr wird das Heidelberger Kompetenzinventar(HKI) regelmäßig eingesetzt(s. Tab. 2). Die Skala „Geometrische Grundbegriffe‘ verweist auf eine überdurchschnittliche Leistung im dritten Schuljahr. Die kontinuierliche Kompetenzerweiterung im Umgang mit Zahlen und Mengen wird durch die Ergebnisse der Skala„Rechnen“ bestätigt.
Motorische Entwicklung, Verhalten im Sportunterricht
Rolf hat durchgängig viel Freude an Bewegung und vor allem an Wasser. Seine starke Fixierung auf die wöchentliche Schwimmstunde zeigt sich u.a. durch ritualisierte Fragen(„Haben wir heute Schwimmen?“‘, ‚Wann haben wir Schwimmen?‘‘). Dieses Verhalten dient letztlich dazu, die Wochen- und Tagesrhythmen zu erfassen.
Hinsichtlich der Lincoln Oseretzky Motor Development Scale(LOS), des Motoriktests der TBFB, bleiben Rolfs Ergebnisse während des Untersuchungszeitraums im Durchschnittsbereich(s. Tab. 1). Unerwartet rasch lernt Rolf im dritten Schuljahr Fahrrad fahren.
Rolfs Entwicklung im sportlichen Bereich ist eher in sozialer Hinsicht bedeutsam: Bereits im zweiten Schuljahr nimmt er an einfachen Gruppenspielen teil. Oft finden seine nichtbehinderten Mitschüler Sonderregeln für Rolf, so daß seine motorischen Handicaps durch gewisse Privilegien ausgeglichen werden. Rolf lernt, sich Regeln unterzuordnen, z.B.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991