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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Magdalene Kellner et al.+

nen und akzeptiert er ihre Arbeitsanwei­sungen. Er kann sich jetzt für fünf bis zehn Minuten konzentrieren. In nur 25% der Unterrichtszeit verhält er sich eindeu­tig nicht unterrichtsbezogen(standardi­sierte Schülerbeobachtung, 2. Schulj.). Im BereichSoziale Kompetenz des HKI liegen Rolfs Werte im unterdurchschnitt­lichen Bereich(s. Tab. 2).

Rolfs große Entwicklungsfortschritte während des dritten Schuljahres zeigen sich besonders in seiner Anpassung an die Klasse als soziale Lern- und Arbeits­gruppe. Aktives Störverhalten im Sinne von Schreien und Schlagen kommt deutlich weniger vor(in 27% der be­obachteten Unterrichtsstunden). Emo­tional wirkt Rolf wesentlich stabiler. Er wendet sich immer häufiger seinen Mit­schülern zu; er scheint sich sogar in ihrer Nähe wohlzufühlen. Die Sonderschul­lehrerin bleibt weiterhin seine wichtigste Bezugsperson innerhalb der Klasse, doch Rolf entwickelt auch eine Freundschaft zu einem lernbehinderten Jungen. Unter­stützung durch Menschen gewinnt an Bedeutung: Rolf reagiert auf Lob; An­erkennung seines Tuns durch andere ist ihm wichtig. Diese beachtlichen Fort­schritte spiegeln sich auch in den Ergeb­nissen des HKI am Ende des dritten Schuljahres(s. Tab. 2). Die Verbesserun­gen zeigen sich vor allem beiLern- und Arbeitsverhalten und ‚,Identitätsfin­dung/Selbstkonzept, aber auch bei Kooperation,

In der zweiten Hälfte des dritten Schul­jahres wird die erste soziometrische Er­hebung in Rolfs Klasse durchgeführt. Auf einer fünfstufigen Skala geben die Schüler(außer Rolf) für jeweils alle Mit­schüler an, wie gern sie diese als Sitz­nachbarn hätten. Rolfs Wahlstatus ist mit 2,68 etwas günstiger als der Klassen­mittelwert(2,81). Er belegt innerhalb der Jungengruppe die dritte Rangposi­tion, innerhalb der gesamten Klasse die fünfte.

Während des vierten Schuljahres verläßt Rolfs Freund die Klasse. Rolf reagiert mit deutlicher Betroffenheit und Trauer, Immer wieder spricht er mit seinen Leh­rerinnen über diesen Verlust. Aggressionen Mitschülern gegenüber tre­ten im vierten Schuljahr kaum noch auf

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Die Entwicklung eines geistigbehinderten Jungen

(in 4% der beobachteten Stunden). Rolf lernt, mit Beziehungen flexibler umzu­gehen. Er kennt alle Mitschüler nament­lich und erkundigt sich, wenn ein Kind fehlt, nach dessen Verbleib.

Am Ende des vierten Schuljahres haben sich zwar einige Aspekte des Bereiches Soziale Kompetenz im HKI verbes­sert, dennoch bleibt Rolf im knapp durchschnittlichen bis durchschnittli­chen Bereich(s. Tab. 2). Bei der sozio­metrischen Erhebung belegt Rolf so­wohl in der Jungen- als auch in der Ge­samtgruppe den zweiten Rang.

Nach der vierten Klasse erfolgt der Wech­sel zur Gesamtschule mit Ganztagsunter­richt. Rolf bewältigt diese Umstellung in eine völlig neue Umgebung besser als er­wartet: Schnell akzeptiert er die neue Sonderschullehrerin als Bezugsperson und lernt die Namen der hinzugekom­menen Mitschüler. Dennoch zeigt sich die Belastung durch den Schulwechsel: Rolf ist mittags physisch und psychisch erschöpft. Dann kann es geschehen, daß Rolf in alte Verhaltensmuster zurück­fällt. In den ersten zwei Monaten zeigt Rolf wieder in 50% der beobachteten Unterrichtsstunden aggressives und stö­rendes Verhalten. Danach sinkt der An­teil auf 6%. Um den Übergang zu er­leichtern, wird Rolf teilweise nur vor­mittags unterrichtet.

Die Ergebnisse der soziometrischen Er­hebung in der fünften Klasse unterstüt­zen die Beobachtungen über Rolfs Be­liebtheit. Mit einem Wahlstatus von 2,27 nimmt er bei einem Klassenmittelwert von 3,16 die dritte Position sowohl in­nerhalb der Jungen- als auch innerhalb der Gesamtgruppe ein. Dagegen wird RolfsSoziale Kompetenz im HKIwei­terhin als knapp durchschnittlich bis durchschnittlich eingeschätzt. Deutlich verbessert haben sich jedoch Aspekte des BereichesSelbstbehauptung und Perspektivenübernahme(s. Tab. 2).

In den fünf Jahren, die Rolf die Integra­tionsklasse besucht, hat er wesentliche autistische Merkmale und Verhaltenswei­sen verloren. Er ist heute bereit, mensch­liche Bindungen einzugehen. Er kann Konfliktsituationen aushalten, akzep­tiert Grenzen, ohne eine tiefergehende Verunsicherung zu erleben. Er mag und

fordert Körperkontakt. Zwar beunru­higen Veränderungen des Gewohnten ihn immer noch, er hat aber gelernt, Nähe zu Menschen als Unterstützung und nicht als Belastung zu erleben.

Lebenspraktische Entwicklung

Die Entwicklung lebenspraktisch aus­gerichteter Fertigkeiten ist für Geistig­behinderte von großer Bedeutung.

Zum Zeitpunkt seiner Einschulung werden Rolfs lebenspraktische Kom­petenzen als eher gering eingeschätzt (Gespräch mit Lehrerinnen, Erziehe­rinnen). Entwicklungsverzögerungen im Bereich der Feinmotorik wirken sich hinderlich bei der Ausführung be­stimmter Handlungen aus: So kann Rolf z.B. keinen Joghurtbecher öffnen, er kann keine Schleifen binden oder Reiß­verschlüsse zuziehen. Er kann Türen mit einem Schlüssel öffnen, weiß je­doch nicht, mit einem Telefonapparat umzugehen.

Während des ersten Schuljahres liegt der Schwerpunkt des pädagogischen Bemühens auf der sozial-emotionalen Eingliederung Rolfs in die Klassenge­meinschaft und der Anpassung an die Schulumwelt. In diesem Kontext sind auch die Fortschritte in den Bereichen Lebenspraxis zu sehen: Rolf kennt am Ende des ersten Schuljahres die räumliche Umwelt der Schule, er geht allein zur Toilette und kann sich dort auch selbständig versorgen; alles, was in den Bereich Sauberkeit fällt, nimmt er sehr genau. Ebenso ist ihm der Tages­ablauf vertraut: wann das Taxi ihn bringt und wieder abholt, wann Pausen sind etc..

Am Ende der zweiten Klasse schätzt die Sonderschullehrerin Rolfs ‚,Prak­tische Kompetenz im HKI knapp durchschnittlich bis durchschnittlich im Vergleich zur Altersgruppe der Gei­stigbehinderten ein(s. Tab. 2). Er kann spülen, abtrocknen, kehren und schnei­den. Außerdem verhält er sich in gefähr­lichen Situationen vorsichtig.

In der Ausübung alltäglicher Verrich­tungen wird Rolf während des dritten

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991