8. Entscheidung über die Beibehaltung der Hypothese(Inferenzstatistik)
9. Einordnung der Ergebnisse in die Theorie(n) zum Ist-Zustand
10. Beurteilung der Ergebnisse mittels Bezug auf die Soll-Vorstellungen
11. Entscheidungen über praktisches und politisches Handeln bezüglich Teilschritten in Richtung Soll-Vorstellung.
Der Ablauf empirischer Forschung in diesen Phasen wird im folgenden am Beispiel unseres vom Schweizer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützten Forschungsprojektes zur Integration von Lernbehinderten in„Regelklassen mit Heilpädagogischer Schülerhilfe“* der deutschsprachigen Schweiz und des Fürstentums Liechtenstein konkretisiert(vgl. die ausführliche Darstellung in Haeberlin, Bless, Moser& Klaghofer 1990).
Thematik und Problematik des Projekts
Vor gut 100 Jahren wurde in den deutschsprachigen Ländern die Schaffung von Hilfsklassen für Schwachbegabte gefordert. Während nahezu eines Jahrhunderts wurde daraufhin die Problematik des Schulversagens mit dem Ausbau der Hilfsschulen bzw. Sonderschulen für Lernbehinderte gelöst. Seit einigen Jahren zeichnet sich eine Gegenbewegung ab, welche auf Integration der bisherigen Sonderschüler in die Regelschule drängt. Man kann bereits die Prognose lesen,„daß sich die einhundertjährige Geschichte des eigenständigen Sonderschulwesens ihrem Ende zuneigt‘““(Eberwein 1988, 9).
Heute wird international eine heftige Integrationsdebatte geführt. Das Bekenntnis zu Positionen droht wichtiger zu werden als die Anwaltschaft für die Kinder. Um mehr Wissen in die Argumentationen einbringen zu können, haben wir uns zur empirischen Erforschung der Wirkungen von integrierenden und separierenden Schulformen auf schulleistungsschwache Schüler entschlosen. Anstelle des unklar definierten Begriffs der„Lernbehinderung‘“(vgl. z.B. Blei
dick 1977; Kanter 1974; Baier 1980) verwenden wir den von uns operational definierten Begriff der„Schulleistungsschwäche*“‘.
In der Schweiz scheint die Integration von bisherigen„Hilfsschülern insbesondere für ländliche Regionen eine verlokkende Lösung von schulpolitischen Problemen geworden zu sein. Zu kleine Schülerzahlen führen zur Suche nach Alternativen zur Hilfschule(vgl. Sturny 1984). Ein weiteres brisantes schulpolitisches Problem sind die Schulwege in oft weit von der Wohngemeinde entfernte Hilfsschulen. In verschiedenen ländlichen Regionen der Schweiz sind deshalb„Regelklassen mit Heilpädagogischer Schülerhilfe‘“ eingerichtet worden: Bisherige„Hilfsschüler‘“ bleiben in der Regelklasse, erhalten aber eine zusätzliche sonderpädagogische Förderung in Kleingruppen oder im Einzelunterricht, in der Regel„Heilpädagogische Schülerhilfe‘“* genannt.
Soll-Vorstellung: die integrationsfähige Regelschule
Ich halte es für wichtig, daß zwischen normativen Wunschvorstellungen und Wahrnehmung des pädagogischen Alltags unterschieden wird. Nur in Konfrontation mit einer Wunschvorstellung des pädagogisch Besseren kann beurteilt werden, ob ein praktischer Schulversuch und seine wissenschaftliche Begleitung einen Schritt auf die Soll-Vorstellung zu oder von ihr weg bedeutet. Es handelt sich bei diesen Überlegungen um nichts anderes als um eine Neuformulierung des pädagogischen Sein-Sollen-Dilemmas.
In der wertorientierten Vision einer integrationsfähigen Regelschule würden alle Kinder, auch bei extrem tiefer Leistungsfähigkeit, bei schwerer Behinderung oder anderen Auffälligkeiten, als akzeptierte und gleichwertige Partner in das Beziehungsnetz der Regelklasse aufgenommen. Diese visionäre Schule wäre getragen von der gegenseitigen Annahme jedes Mitschülers als Partner und vom wechselseitigen Vertrauen in die schöpfungsgewollte Einmaligkeit jedes Mit
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991
schülers. Die integrationsfähige Regelschule wäre personell so großzügig ausgestattet, daß Einweisungen in Sonderklassen wegen Überlastung und Überforderung der Regelklassenlehrer nicht mehr notwendig wären.
Unsere heutige Regelschule kennzeichnet Kinder, welche genormte Leistungen nicht erreichen können, durch Separation als integrationsunfähig. Diese Schule entspricht der Vision nicht. Die zentrale Voraussetzung für den Perspektivenwechsel von der Integrationsfähigkeit des Kindes zur Integrationsfähigkeit der Schule wäre meines Erachtens eine allgemeine Absage an die negative Bewertung von Menschen durch Mitmenschen nach typologisierenden Ausgrenzungsmerkmalen wie Leistungsfähigkeit, Intelligenz,„„Sonderschulbedürftigkeit“‘. In der Doppeldeutigkeit des Integrationsbegriffs(Integrationsfähigkeit der Schule vs. Integrationsfähigkeit des Kindes) widerspiegelt sich der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach ethisch motivierter Gleichheit und der Realität gesellschaftlich motivierter Ungleichheit und Aussonderung der Schwachen.
Theoretischer Rahmen zur Interpretation des Ist-Zustandes
Ein wesentliches Merkmal der heutigen Schule scheint ihre bürokratische Verwaltbarkeit‘ zu sein. Schule wird vom Staat mit dem Zweck organisiert, Kinder und Jugendliche auf die Eingliederung in Beruf, Staat und Gesellschaft vorzubereiten. Als gesellschaftliche Institution hat sie die Tendenz, die bei der Lösung ihrer Aufgaben auftretenden Probleme durch eine bürokratisch organisierte Ausdifferenzierung von relativ selbständigen, kleineren Subsystemen zu lösen. So gesehen, kann die Schaffung eines Sonderschulsystems und die damit einhergehende Separation von Schülern in Sonderklassen als Folge der allgemeinen Tendenz gesellschaftlicher Institutionen zur Ausdifferenzierung interpretiert werden(vgl. Bleidick 1985; Haeberlin 1989 a,b).
Wenn die bürokratisierende Tendenz nach der Übernahme des Integrations
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