gedankens in das öffentliche Schulwesen wirksam bleiben wird, ist mit der Wahrscheinlichkeit zu rechnen, daß das neue Ziel, schulleistungsschwache und behinderte Kinder nicht mehr in Sonderschulen zu separieren, sondern in Regelklassen zu integrieren, wiederum nach dem Prinzip der organisatorischen Komplexitätsreduktion und somit durch bürokratisch handhabbare Vorschriften und Maßnahmen angestrebt wird. Eine in erster Linie bürokratische Antwort auf die Integrationsforderung kann an dem heutigen negativen und positiven Bewerten von Menschen durch Typologisierung nach Leistungsfähigkeit, Intelligenz, Behinderung,„Sonderschulbedürftigkeit‘ u.a. kaum etwas ändern.
Dies kann deshalb vermutet werden, weil dem Leistungsstarken und-motivierten weiterhin Konsumgüter und gesellschaftliche Privilegien winken. So bleibt die Verknüpfung von„Integrationsfähigkeit‘ mit sozial genormter„Leistungsfähigkeit und-motivation‘“ ein wesentlicher Bestandteil unseres gesellschaftlichen Wertklimas. Der Wert der Gleichwertigkeit aller Menschen bei unterschiedlichsten, zum Teil sogar im Produktionsprozeß kaum verwertbaren Leistungspotentialen steht im Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität des Habens, des Haben-Wollens und des HabenMüssens(vgl. Haeberlin 1985 ,49—58). Diese Analyse des Ist-Zustandes veranlaßt mich zur folgenden These: Integrationsversuche im öffentlichen Schulwesen neigen dazu,„„Integrationsfähigkeit‘‘ einseitig auf das Kind zu beziehen und mit„Schulleistungsförderbarkeit“ gleichzusetzen. Die Situation von integrierten leistungsschwachen Schülern wird in folgendem Sinne bezugsgruppentheoretisch prognostizierbar: Die Bewertung der eigenen Fähigkeiten von Schülern geschieht in der Regel durch Vergleiche mit den Leistungen von Mitschülern. Die Bewertungskategorien zentrieren sich in Schulen häufig um die Grundwerte ‚Leistung‘ und ‚Konformität‘, weil diese Werte soziale Verstärkung durch Erzieher und positive Selektion versprechen(vgl. Petillon 1978). Unter diesen Bedingungen definieren sich auch häufig Sympathie und Ablehnung innerhalb von Schul
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klassen nach den Schulleistungen und dem schulkonformen Verhalten von Mitschülern. Es gibt somit hinreichend Anlaß zur Hypothese, daß Leistungsschwache in Integrationsklassen genauso wie Schulversager in gewöhnlichen Regelklassen häufiger als die Mitschüler zu den unbeliebten und abgelehnten Schülern gehören.
Leistungsschwache Schüler finden in leistungshomogenen Sonderklassen Vergleichsmaßstäbe, die ihnen eine relativ positive Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit erlauben. In einer leistungsheterogenen Integrationsklasse finden Leistungsschwache hingegen Vergleichsmaßstäbe, die sie zu einer relativ negativen Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit veranlassen. Es drängt sich die Hypothese auf, daß Leistungsschwache nach einer Sonderschuleinweisung eine positivere Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, d.h. ein höheres Begabungskonzept(Meyer 1984) haben als nach einer Integration in eine Regelklasse.
Ein tiefes Begabungskonzept kann für integrierte, schwache Schüler alternative Bedeutungen haben: entweder sinkende Leistungsmotivation oder steigendes Realitätsbewußtsein ohne negative Auswirkungen auf die Leistungsmotivation. Nur bei der zweiten subjektiven Bedeutung des Begabungskonzepts wäre ein Schritt zum Wertklima einer integrationsfähigen Schule gemacht. Ein gewisser Hinweis dafür wäre gegeben, wenn schwache Schüler trotz tiefem Begabungskonzept positive Leistungsfortschritte machen. Somit war in unseren Forschungen die Überprüfung der Frage erforderlich, ob dem besseren Begabungskonzept von schwachen Schülern in Sonderklassen im Vergleich zu solchen in Integrationsklassen objektiv bessere Leistungsfortschritte entsprechen. Zahlreiche amerikanische Forschungsergebnisse sprechen gegen diese Annahme(Haeberlin, Bless, Moser& Klaghofer 1990, 108 ff.). Bezugsgruppentheoretisch ist bei unveränderter, hoher Bewertung des Leistungspotentials in Schulklassen außerdem anzunehmen, daß in Integrationsversuchen das Ziel, den Leistungsschwachen eine positivere Selbsteinschätzung
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
der sozialen Integration in die Schulklasse und des subjektiven Befindens in der Schule zu vermitteln, eher weniger erreicht wird als in Sonderschulen.
Grad der Verallgemeinerung und Objektivierung
Empirische Forschung hat den methodologischen Vorteil, daß sie intersubjektiv nachvollziehbar und in den Methoden wiederholbar zu theoriegeleitet generalisierbaren Erkenntnissen kommen kann. Demgegenüber ist praktisches Handeln auf das nicht wiederholbare und nicht generalisierbare Einzelproblem gerichtet. Der Widerspruch zwischen Erkenntnis und Handeln ist meines Erachtens unaufhebbar und damit als dialektische Einheit anzuerkennen. Die einseitige Gewichtung eines Poles dieser dialektischen Einheit führt zu Fehlentwicklungen der Wissenschaft: Einerseits bewirkt Rückzug auf praktisches Handeln Blindheit gegenüber Ideologien und Verwechslungen von Wunsch mit Wirklichkeit. Andererseits hat Beschränkung auf generalisierte Erkenntnis Blindheit für die Nöte der einzelnen Menschen zur Folge.
Ich gehe davon aus, daß die Annahme eines Kontinuums zwischen den beiden Polen wissenschaftstheoretisch vertretbar und sinnvoll ist. Auf diesem Kontinuum bedeuten abnehmende Objektivierbarkeit und Generalisierbarkeit zunehmenden Druck zum praktischen Handeln; abnehmender Druck zum unmittelbaren Handeln hingegen ermöglicht zunehmende Distanznahme zwecks objektivierender Forschung und generalisierender Theoriebildung. Um Fehlentwicklungen in eine dieser beiden Richtungen zu verhindern, muß sich wissenschaftliche Begleitung stets zum Ziel machen, mehrere Teilprojekte möglichst gleichmäßig auf das Kontinuum verstreut durchzuführen.
Das hier vorgestellte empirische Teilprojekt unserer gesamten Integrationsforschungen befindet sich auf dem Kontinuum eher in der Nähe des Pols der idealtypischen empirischen Forschung.
Band XVII, Heft 1, 1991