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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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dann, wenn sie sich pädagogisch-poli­tisch für Gesamtschulen aussprachen. Vor diesem Hintergrund entstand Ende der 70er Jahre die Planung des Inte­grationsansatzes, über dessen Ergebnisse hier im wesentlichen berichtet wird. Von Anfang an war nicht geplant, bloß eine weitere integrative Schule hinzuzufügen. Vielmehr war die Ausgangsfrage: wie muß eigentlich eine(Grund)Schule or­ganisiert sein, wenn gemeinsame Erzie­hung der Normalfall in einem gesamten Schulbezirk, in einer ganz normalen Schule wäre? Wieviele Behinderte, oder um genauer zu sein: wieviele Schülerin­nen und Schüler mit besonderem zusätz­lichen Förderbedarf kämen eigentlich aus dem Wohnumfeld auf jede Schule zu, welche Problemverteilung ergäbe sich, welche Didaktik stellte sich als be­sonders günstig heraus, welches päd­agogische und eventuell weitere Per­sonal wäre erforderlich, welche Kon­flikte entstehen und wie sind sie zu 1ö­sen? Wie kann der außerunterrichtliche, ja außerschulische Alltag von Kindern mit und ohne Behinderungen in das schulpädagogische Konzept einbezogen werden?

Aus diesen Fragen entstand in der GEW Berlin in Zusammenarbeit mit Hochschul­vertretern das erste Konzept derwohn­ortnahen Schule für alle Kinder(Preuss­Lausitz, Blin, Kross& Lau 1979). Es war so angelegt, daß es im Grundsatz überall realisierbar sein sollte, und das heißt mit den ‚normalen Lehrern, Eltern, Schul­verhältnissen, Ausstattungen, Finanzen usw. In dieser Schule sollten in allen Klassen alle Kinder aus dem Einzugsbe­reich der Schule unterrichtet werden können, unabhängig von ihren physi­schen oder sozialen Voraussetzungen. Empirische Voruntersuchungen in einem für West-Berliner Verhältnisse repräsen­tativen Innenstadtbezirk zeigten, daß mit rd. 10% aller Kinder zu rechnen war, die zeitweise oder dauerhaft zusätzliche Förderung brauchten daß jedoch dar­unter nur wenige Kinder mit Sinnes-, Körper- oder geistigen Behinderungen waren. Diese Untersuchung wurde Kom­munalpolitikern, Eltern und Lehrern vorgestellt und führte dazu, Befürch­tungen abzubauen, die auf der Vermu­

tung beruhten, bei wohnortnaher Inte­gration kämenKolonnen von Rollstuhl­fahrern auf jede Schule zu.(Tatsächlich gibt es Rollstuhlfahrer sehr selten.) Nicht das Außergewöhnliche, sondern das ‚Normale sollte also Grundprinzip und Orientierung der wohnortnahen Schule werden. Das ‚Normale der gesellschaft­lichen Verhältnisse ist jedoch häufig auch das Fragwürdige: sozial isolierte Familien mit ihren Kindern im Kiez; ärmliche Lebensverhältnisse; kulturell geringer Anregungsgehalt; die Mühsalen nachmittäglicher Therapien; der Ärger Behinderter und ihrer Familien mit Nachbarn, Behörden oder Verkehrsmit­teln. Der Spott anderer Kinder über verunstaltete Körper Diese Art schlechte Normalität sollte nun gerade nicht unterstützt, sondern bekämpft, be­arbeitet, ja wenn möglich überwunden werden. Normalität im Konzept der wohnortnahen Schule soll in der Weise Wirklichkeit werden, daß diese ‚schlech­te Seite des Alltags nicht abgeschoben und verdrängt wird, sondern darüber mit den Kindern, aber auch mit Eltern und Kollegen, mit dem schulpsycholo­gischen Dienst, der Behindertenfürsorge, den lokalen Kirchengemeinden, den Ver­einen usw. Auseinandersetzungen statt­finden. Ist dies, war die Ausgangsfrage, doch nur mit ‚außergewöhnlichen Päd­agogen(Sonder- wie Grundschullehrern) möglich?

Das von GEW und Hochschulvertretern ausgearbeitete Konzept überzeugte in dem als Untersuchungsfeld ausgewählten Berliner Bezirk Schöneberg nach vielen Gesprächen bezirkliche Lehrer- und El­ternvertretungen, die kommunalen Par­lamentarier und den Stadtrat für Volks­bildung. Er forderte alle 17 Grundschu­len seines Bezirks auf, sich an der Um­setzung zu beteiligen. Eine Grundschule zeigte Interesse, übernahm und konkre­tisierte das Konzept, und setzte die Ver­wirklichung in Verhandlungen mit dem Bezirk und der Landes-Schulbehörde schließlich durch: die Uckermark-Schu­le. Von rund 50 Kollegen votierten nur zwei dagegen; diese wechselten später die Schule.

Die Kollegen der Schule selbst waren schon längere Zeit unzufrieden mit dem

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991

Unterrichtsalltag. Ihr Interesse konzen­trierte sich auf die Rezeption reform­pädagogischer Ansätze(Freinet- und Montessori-Pädagogik, Ansätze der open education aus Großbritannien, Entwick­lung binnendifferenzierter Materialien und Unterrichtsplanung usw.), um den individuellen Lernvoraussetzungen ihrer Schüler besser gerecht werden zu kön­nen. Diese waren und sind äußerst hete­rogen zusammengesetzt: ein Viertel sind ausländischer Herkunft, rund 3060% pro Klasse entstammen Arbeiterfami­lien, gleichzeitig entstammt mehr als jedes vierte Kind einer Akademikerfa­milie. Die Aufnahme von Kindern mit Sinnes-, Körper- und Lernbehinderun­gen bedeutete zwar eine quantitative Verbreiterung der Heterogenität, grund­sätzlich ging es jedoch um das selbe päd­agogische Problem: Wie können Men­schen so unterschiedlicher Bedingungen gemeinsam lernen auch voneinander? Die meisten Forderungen der Schule wurden erfüllt: in allen Klassen wird, beginnend 1982 mit den Vorklassen und den drei ersten Klassen, integrativ unter­richtet. Die Klassenfrequenzen liegen bei 20, der Anteil der ‚behinderten Kin­der bei zwei. Zu den normalen Lehrer­stunden(die in Berlin-West für die ersten zwei Klassen je nach Klassenstärke bis zu 10, in den höheren Klassen bis zu 3-6 sogenannte Teilungsstunden ein­schließen) kommen pro Klasse 8 Son­derpädagogenstunden, d.h. pro Jahr­gang ein Sonderpädagoge.(Nach sechs Jahren sind also 6 Sonderpädagogen an der Schule tätig, außerdem ein Erzieher mit heilpädagogischer Zusatzausbildung für die Vorklassen.) Auf die klassische (schulorganisatorische) Definition der aufzunehmenden Behinderung wird ver­zichtet. Vielmehr wird in einem vom Schulpsychologischen Dienst gemeinsam mit der Wiss. Begleitung erarbeitetem Gutachten festgestellt, ob und inhalt­lich welcher zusätzliche Förderbedarf besteht. Die konkreten Förderpläne für die einzelnen Kinder werden danach von den jeweiligen Sonderpädagogen in Kooperation mit den Klassenlehrern ent­wickelt. Die im Rahmen des Schulver­suchs aufgenommenen Kinder werden administrativ alsGutachtenkinder* ge­

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