Ulf Preuss-Lausitz+ Erforschte Integration
Das von uns aufgrund soziometrisch erhobener Wahlen und Ablehnungen ermittelte integrierte Sympathiestatus der Klassen nahm zu, wie Tab. S. 55 zeigt. Mag sein, daß das Klassenklima in allen bundesdeutschen Grundschulen immer besser wird; das ist nicht zu beurteilen. Wir können nur sagen: integrative Pädagogik beeinträchtigt die Entwicklung eines zunehmend positiveren Klassenklimas in keiner Weise. Unsere Hypothese ist, daß sie ursächlich dafür verantwortlich ist. Vergleichsstudien in nichtintegrativen Grundschulen könnten dies überprüfen.
— Eine differenzierte Auswertung der Sympathieentwicklung zeigte, daß das — statistisch— beliebteste Kind das deutsche Mittelschichtmädchen ohne Geschwister war. Aufschlußreich übrigens, daß diese Differenzen vor allem im Bereich der Beliebtheit entstanden; bei den Unbeliebten waren offenkundig— und unsere qualitativen Nachfragen nach den Gründen von Ablehnungen belegten dies— individuelle Verhaltensdimensionen maßgebend. Im Laufe der sechs Grundschuljahre nahm die Unbeliebtheit (zugunsten der Nichtbeachtetheit) ab, die Beliebtheit besonders der Mädchen zu(im einzelnen vgl. Heyer u.a. 1990, S. 108).
— Bei den Gutachtenkindern ließ sich eine parallele Entwicklung ihres sozialen Status feststellen: in allen Jahrgängen verlief die Tendenz von zuerst eher negativen Werten hin zu besseren. Die 38 Gutachtenkinder, die ja zu großen Teilen Lern- und Verhaltensauffälligkeiten zeigten und oft aus sozial schwachen Familien stammten, konnten ihre Position über die Jahre verbessern. D.h. nicht, daß sie alle beliebt wurden; zumeist wich die Ablehnung eher der(zuweilen zähneknirschenden) Hinnahme ihres auffälligen Verhaltens.(Zwei Drittel wurden als ‚Unauffällige‘ im Sinne der Typisierungen von Petillon 1980 eingestuft.) Das Schwinden der Ablehnung darf bei ihnen als großer pädagogischer Erfolg verbucht werden, und es ist gewiß nicht ‚automatisches‘ Ergebnis der gemeinsamen Erziehung, sondern— wie Bächtold(1988) untersucht hat— Folge gezielter pädagogischer Strategien.
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— Zum besseren Vergleich mit anderen Integrationsstudien haben wir den soziometrischen Status der Gutachtenkinder zusätzlich nach dem Verfahren von Petillon(1980) für Wahlstatus und Ablehnungsstatus ausgewertet. Wir erhielten zu 84% einen durchschnittlichen oder hohen Wahlstatus, zu 88% einen niederen oder durchschnittlichen Ablehnungsstatus. Die Ergebnisse sind fast identisch mit den Hamburger Ergebnissen von Wocken(1987, S. 236), obwohl dort erheblich andere Behinderte(nämlich häufiger Kinder mit geistigen Behinderungen, weniger sog. Lernbehinderte) integriert werden.
— Die Untersuchungen der realen nachmittäglichen Freizeitkontakte zeigten für alle Schüler, daß Grundschüler heutzutage— in Großstädten— regelmäßig mit rund drei anderen Kindern enger zusammen sind, sie einladen, mit ihnen spielen oder andere Aktivitäten unternehmen. Die Gutachtenkinder hatten durchschnittlich einen ‚halben‘ Freund weniger, bei einer erheblichen Streuung im Einzelfall. Diese für alle Schuljahre zutreffende Feststellung sagt zugleich, daß von einer grundsätzlichen Isolation der Gutachtenkinder im Freizeitbereich nicht gesprochen werden kann. Beim ältesten Jahrgang war es so, daß im sechsten Schuljahr alle Kinder, auch alle Gutachtenkinder, mindestens einen festen Freund oder eine feste Freundin hatten.(Allerdings durften rund 30% aller Schüler niemand nach Hause mitbringen!)
— Wichtig für das Konzept der Schule als„wohnortnahe Schule im Kiez‘ war die Frage, woher die Freunde kommen. 70% aller Beziehungen entstammten dem engeren Wohnumfeld. Wenige Beziehungen entstanden über Eltern, Vereinsbesuche u.ä. Das wichtigste war der Kontakt über die eigene Klasse; in manchen Klassen waren weit über die Hälfte der Nachmittagspartner/innen aus der eigenen Klasse. Die eigene Klasse als Ausgangspunkt sozialer Beziehungen erwies sich für Einzelkinder, Mittelschichtkinder und Gutachtenkinder als besonders wichtig. Behinderte, die bei unserer Untersuchung eher im Mittelfeld der Beliebtheit zu finden sind, haben be
sonders durch ihre Klassenkontakte die Möglichkeit, Freunde zu finden. Für sie bedeutet die Wohnortnähe nicht unbedingt, daß sie gleichsam automatisch Spielpartner finden; das gemeinsame Erfahrungsfeld der gemeinsamen Unterrichtssituation verstärkt ihre Möglichkeiten der Freundschaftsbildung.
— In einer Vergleichsuntersuchung mit einer benachbarten Schule für Lernbehinderte wurde festgestellt, daß die Freizeitkontakte dieser Schüler um die Hälfte seltener als bei den Grundschülern über den gemeinsamen Schulbesuch entstanden. Mehrfach wurde betont, daß man sich gerne treffen würde, die langen Wege dies jedoch verhinderten. Dagegen waren sie häufiger mit Geschwistern zusammen.
— Bei unseren mehrjährigen Untersuchungen über die nachmittäglichen Freizeitaktivitäten aller Grundschüler, auch der Gutachtenkinder, stellten wir fest, daß geschlechtsspezifische, ethnische und soziale Unterschiede nur in einigen Bereichen eine Rolle spielten, etwa beim Umfang des Lesens, bei bestimmten Sportarten, den Musikpräferenzen usw. Insgesamt kann jedoch von einer recht homogenen Kinderkultur gesprochen werden. Dies gilt auch für die zeitliche Dauer des Fernsehens, der Nutzung von Cassettenrecordern und der Videogeräte. Allerdings gab es bei den inhaltlichen Präferenzen für bestimmte Sendungen und Musikstücke erwartbare Unterschiede (im einzelnen Heyer u.a. 1990, S. 120 ff.). Die Gutachtenkinder bewegten sich insgesamt innerhalb dieser Aktivitäten und Vorlieben. Allerdings war ihr Medienkonsum noch höher als der der übrigen Kinder, ihre ‚Gegenstandsarmut‘ beim Spielen ausgeprägter und ihre familiär bedingten Einschränkungen, innerhalb der Wohnung mit Freunden zusammen zu sein, größer. All dies spiegelt keine ‚behinderungsspezifischen‘, sondern ihre sozialen Bedingungen wider.
— Schließlich interviewten wir nach fünf Jahren Schulversuch die Gutachtenkinder über ihre Einstellungen zur Schule, zu den Lehrern, zur gemeinsamen Erziehung und zu möglichen Alternativen. Wir stellten fest, daß drei Viertel von ihnen uneingeschränkt gern zur Schule
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991