7. Integrationspädagogische Didaktik? Ergebnisse sechsjähriger Erfahrungen
Neben sozialer Integration stand bei Lehrern und Wissenschaftlicher Begleitung die Frage im Mittelpunkt, wie Lernmotivation und Lernleistung für alle Schülerinnen und Schüler gefördert werden können, ohne daß Unter- und Überforderungen auftreten.„Binnendifferenzierung‘, das pädagogische Paradigma bundesdeutscher Grundschulreform während der 80er Jahre, war und blieb der — erfolgreiche— Drehpunkt aller Bemühungen. Binnendifferenzierung bedeutete trotz der pädagogischen Freiheit der einzelnen Pädagogen, daß fast durchweg während der ersten beiden Schulstunden die durch den Wochenplan vorgegebenen Aufgaben nach individuellen Zeitmustern erledigt werden konnten, teilweise auch mit Unterstützung durch Schülerpartner oder Pädagogen. Darüber hinaus entwickelte sich jedoch im Laufe der Jahre die Praxis, gerade für die Orientierung jener Kinder, die Lern- und Verhaltensprobleme hatten oder die von Haus aus an feste soziale Muster gewöhnt waren(insbesondere polnische und türkische Kinder), innerhalb des Schultages und der Woche feste soziale Orientierungsformen zu schaffen. Heyer nennt das„rituelle Unterrichtsformen“‘(vgl. im einzelnen Heyer u.a. 1990, S. 63 ff.). Unter integrationspädagogischen Gesichtspunkten ist also nicht individualisierender oder binnendifferenzierender Unterricht als solcher, sondern seine Entfaltung innerhalb eines festen Rasters an Lern- und Kommunikationsformen für Kinder mit besonderen Lern- und Identititätsproblemen wichtig.
Als besonders erfolgreich, auch bei unterschiedlich arbeitenden Lehrerinnen und Lehrern, erwiesen sich im einzelnen:
— ein täglicher Morgenkreis, der für Gespräche aller Art, Berichte, Konfliktaustragung, Singen, Tagesplanung usw. genutzt wurde und der, schon ab der ersten Klasse, von einem Kind geleitet wurde (auch Lehrer mußten sich melden);
— ein festes Tafelbild mit den Symbolen der Tagesarbeit und der Wochenaufgaben;
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— feste 10minütige Übungsphasen für alle, wie etwa das ‚Frühstücksdiktat‘ oder die ‚10 Minuten Rechnen‘, die gemeinsam beendet werden;
— Wochenendauswertung als Kritik der abgelaufenen Woche, Rückschau auf eigene Leistungen und Vorschläge für die Planung der kommenden Woche.
Einiges dieser ‚Rituale‘ orientiert sich an Freinet-Elementen, wie auch andere Aspekte der Pädagogik vieler UckermarkLehrer(die Druckerei, der Freie Text, die Korrespondenz, die Ausstellung auf dem Flur, das für die Eltern auf Cassette aufgenommene Lied, das Projekt im Stadtteil usw.). Immer wieder konnte beobachtet werden, daß sich diese Lernund Sozialformen, auch in ihrem Wiedererkennungswert, großer Beliebtheit erfreuten, sowohl bei Kindern mit Lernund Verhaltensproblemen als auch bei sogenannten Schnellernern. Es müssen Formen sein, die individuelle Eigenarten, Zeitrhythmen usw. zulassen und zugleich die Gruppenorientierung enthalten.
Das galt auch für den über viele Jahre in mehreren Jahrgangsstufen praktizierten Projekttag, der jeweils eine Jahrgangsstufe einbezog. An diesen Tagen standen meist fünf Lehrer für rund 60 Schüler zur Verfügung. Unter einem gemeinsamen Oberthema wurden Teilthemen in Gruppen bearbeitet und die Ergebnisse später zusammengeführt. Diese Projekte konnten sich auf einen Tag beschränken, aber auch über mehrere Wochen gehen. Größere Projekte mündeten meist in gemeinsame ‚Bücher‘(wie etwa das „Froschbuch‘‘) oder in Ausstellungen auf dem Flur. Allmählich verwandelte sich der öde Altbau dieser Schule— ein gewaltiger ehemaliger Gymnasialbau aus der wilhelminischen Untertanenzeit— durch immer buntere Wände, die von der produktiven Arbeit der Kinder zeugten.
Die Ausdehnung der hier nur angedeuteten integrationspädagogischen Didaktik innerhalb des Kollegiums von rund 50 Personen erfolgte durch verschiedene Formen der Weitergabe. Zum einen waren ja— nach dem allgemeinen Berliner Grundschulkonzept— durch die ‚Teilungsstunden‘ zeitweise ohnehin Lehrer
anderer Klassenstufen als sogenannte ‚Teilungs- oder Kooperationslehrer‘ im Unterricht der ersten Integrationsklassen dabei. Gerade diese Kollegen wurden später neue Klassenlehrer in nachwachsenden ersten Klassen und konnten auf die vorangegangenen Erfahrungen zurückgreifen. Darüber hinaus erwiesen sich ganztägige Fortbildungstage im Kollegium, die von ihnen selbst— zusammen mit der Wissenschaftlichen Begleitung und zuweilen externen Experten— vorbereitet wurden, als besonders akzeptiert und erfolgreich. Die Themen waren meist sehr praxisnah: Wie mache ich Freie Texte; wie differenziere ich beim Leselehrgang, in Mathematik; wie schreibe ich Lernentwicklungsberichte anstelle der Ziffernzeugnisse usw.— Sonderpädagogische Themen im engeren Sinn wurden je nach Bedarf in Gesamtkonferenzen einbezogen(und damit auch für die Elternvertreter zugänglich) oder auf speziellen Veranstaltungen einzelner‘ Jahrgangsstufen oder interessierter Lehrer(z.B. die Themen: hörgeschädigte Kinder in unserer Integrationsklasse; was ist ein MCD-Kind und wie gehen wir damit um; wie sollen Förderpläne aussehen und umgesetzt werden usw.). Von der Wissenschaftlichen Begleitung zeitweilig abends angebotene Veranstaltungen mit übergreifenden Themen(Wandel der Kindheit heute; Was ist FreinetPädagogik; Integrationserfahrungen in anderen Ländern usw.) wurden eher von Eltern als von Lehrern wahrgenommen.
Nicht zuletzt hat die faktisch forbildende Tätigkeit aller Lehrerinnen und Lehrer dadurch, daß sie Hospitanten, Praktikanten und anderen Besuchern immer und immer wieder Rede und Antwort stehen mußten, dazu geführt, daß im Laufe der Jahre eine Vielzahl von darüber hinausgehender individueller Fortbildungskativitäten entstand, einige nun für andere Integrationsschulen Fortbildung durchführen und ein großes Problembewußtsein besteht. Unsere Schlußfolgerung: schulnahe, kollegiumsorientierte Fortbildung im Schneeballsystem ist effektiv. Dabei müssen die schulinternen wie die schulexternen Personen schon in der Vorbereitung der Fortbildung zusammenwirken und klären, was
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 1, 1991