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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Christoph Anstötz*

Entgegnung auf die Stellungnahme von Schurad

durch ein glücklicheres(noch nicht existierendes) Lebewesen. Diese Mög­lichkeit aber besteht nur solange, wie der Status des Selbstbewußtseins in der Entwicklung noch nicht erreicht ist, al­so ein expliziter Wunsch nach Fortset­zung der eigenen Existenz noch nicht bestehen kann. So sehr die ‚Ersetzbar­keitsregel im Zusammenhang mit un­geborenem Leben(Abtreibung) den moralischen Vorstellungen vieler Men­schen von heute entgegenkommen mag, so steht sie doch quer zu den Gefühlen der meisten, wenn es sich um geborenes Leben(Kindestötung) handelt.

Die ganze Diskussion um Menschen mit schwerster Behinderung ist bisher abge­wickelt worden, ohne daß der Begriff ‚Person auch nur ein einzigesmal be­nutzt worden ist außer in indirekter Form bei dem soeben erwähntenSta­tus des Selbstbewußtseins. Der Begriff ‚Person hat Schurad und anderen Be­hindertenpädagogen schwer zu schaffen gemacht. Wie oben skizziert, geht der Präferenz-Utilitarismus ja von empirisch erfahrbaren Bedürfnissen und Interessen, Wünschen und Präferenzen fühlender Lebewesen auf unserem Planeten aus. Das ist der Ausgangspunkt. Für die Be­dürfnisse und die Ermittlung der Bedürf­nisse eines Lebewesens aber macht es einen Unterschied, ob es sich dabei um eine ‚Person handelt oder nicht. Unter einer Person versteht man nach Singer, Tooley und anderen ein Lebewesen, das über bestimmte Eigenschaften der Ratio­nalität, des Selbstbewußtseins, des Zeit­gefühls etc. verfügt, so daß es beispiels­weise auch imstande ist, Wünsche hin­sichtlich seiner Zukunft zu haben. Es ist also wieder einmal nicht die Zuge­hörigkeit zur Spezies Homo sapiens, die den moralischen Ausschlag gibt, sondern die jeweiligen Präferenzen des betreffen­den Lebewesens, sei es Mensch oder Tier; auch die Interessen extraterrarer intelli­genter Lebewesen, die zu uns auf die Erde kommen würden, könnten wir nicht deswegen mißachten, weil diese

Wesen nicht zu unserer Spezies gehören. Schurad(1990, 192 greift also völlig daneben, wenn erdie Verwendung des Personenbegriffs zur Kenntlichmachung des Menschlichen als Auffassung der von ihm kritisierten Position hinstellt und dem Leser dann noch glauben ma­chen will, daß Lebewesen, die nicht Per­sonen sind, aus utilitaristischer Sicht für die ethisch legitimierte Tötung frei­gegeben seien; die abwertende Bezeich­nung ‚Un-Person für diese Wesen stammt im übrigen von Schurad(1990, 192) und nicht von Singer oder mir. Es ist in die­sem Zusammenhang zu erwähnen, daß Schurad(1990, 191) innerhalb eines Zitats dort, wo ich vonKleinstkindern spreche(Anstötz 1990, 121), diesen Begriff inKleinkinder abändert. Diese inhaltliche Verfälschung hat einen erheb­lichen Provokationswert und erscheint in besonderer Weise geeignet, den un­kundigen Leser auf die eigene Seite zu ziehen.Der Personbegriff...,so hat Schurad(1990, 192) sich ausgedacht, leistet die eigentliche Argumentations­hilfe für die Forderung auf Tötung z.B. auch schwerstgeistigbehinderter Men­schen. Es wird sein Geheimnis bleiben, wie er eine solche Feststellung für einen Ansatz wie den von Tooley, Singer und anderen geltend machen kann. Bei dem Problem des Tötens einer Person zählt zunächst deren eigenes Interesse ‚welches nicht nur auf das Leben sondern unter Umständen auch auf den eigenen Tod gerichtet sein kann. Das hat natürlich weitreichende Folgen für die Beurtei­lung des Freitodes, der aktiven Sterbe­hilfe etc. Doch das führt zu Problemen, die über den vorliegenden, von Schurad angesprochenen Kontext hinausgehen.

Fazit: In Schurads Stellungnahme wim­melt es von Mißverständnissen, Fehl­deutungen und diskreditierenden Unter­stellungen. Seine Ausführungen gipfeln in der fixen Idee, daß Ethiker wie Sin­ger, Tooley und letztlich auch ich die Tötung schwerstbehinderter Menschen anzielen und dafür ‚Argumentationshil­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 2, 1991

fen anbieten würden. Nur psycholo­gisch läßt es sich erklären, daß Schurad bei seiner Stellungnahme sowohl Schluß­folgerungen außerhalb jeglicher ernst­haften Betrachtung läßt, die mit seinen Vorbehalten unvereinbar sind als vor al­lem auch die ethischen Prämissen der von ihm kritisierten Position. Diese set­zen beim Wohlergehen aller fühlenden Lebewesen(also auch schwerstbehin­derter Menschen!) an, bei der Vermei­dung unnötigen Leidens und zur Re­gulierung moralischen Verhaltens bei der konsequenten Fortführung der Gleichheitsidee, wie sie schon in den Menschenrechten grundgelegt ist. Be­reits mein von Schurad selbst zitierter Artikel aus dem Jahre 1988 zeigt milde formuliert, wie weit hergeholt seine Vernichtungs- und Tötungsvorwürfe sind, die er dem Leser mittels einer fehlerhaf­ten und suggestiven Beweisführung nahe­bringen will, Viele seiner gedanklichen Verknüpfungen sind unter dem Aspekt der Schlüssigkeit nicht nachvollziehbar, streckenweise sind seine Ausführungen ganz und gar unverständlich(vgl. z.B. die Passage zur petitio prinzipii). Die in seiner Stellungnahme geltend gemach­ten Einwände führen in der Sache selbst keinen Schritt weiter. Dennoch sind sie schon deshalb ernst zu nehmen, weil viele der von ihm geäußerten Bedenken(ge­rade zur Tötungsproblematik) in der Sonderpädagogik weit verbreitet sind (vgl. Anstötz 1991). Von daher wäre zu wünschen, daß sich mehr Pädagogen auch in der Praxis zu Wort melden. Da­mit wären zum wenigsten Anlaß und Ge­legenheit zur Korrektur von Ansichten gegeben, die auf Fehleinschätzungen be­ruhen und im Verborgenen ein schaden­stiftendes Eigenleben führen. Schurad (1990, 193) hat durchaus Recht, wenn er meint, daßSchulpraktiker... ei­ner... ethischen Festigkeit bedürfen. Aber es kann in niemandes Interesse sein, wenn diese Festigkeit auf Irrtümern beruht.

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