Editorial
Das vorliegende Themenheft gibt den Diskussionsstand und die Ergebnisse des Arbeitstreffens„Geistige Entwicklung und Förderung als zentrale Aspekte der Lernforschung— Gegenstandserfahrung, Zeichen- und Symbolgebrauch, Spracherwerb‘“ wieder. Damit widmet sich dieses Heft den theoretischen Grundlagen des Denkens und der kognitiven Entwicklung, wobei jeweils die zentralen und ursprünglichen Schlüsselmomente beim Erwerb geistiger Leistungen bis hin zum Spracherwerb Gegenstand des Forschungsinteresses sind. Wir haben darauf geachtet, daß alle Beiträge dem Niveau empirisch fundierter Forschung entsprechen.
Die Tagung fand vom 1.—2. Februar 1991 im Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main statt und wurde in Zusammenarbeit mit diesem Forschungsinstitut und dem Institut für Sonderund Heilpädagogik der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main veranstaltet. Das Treffen wurde von Norbert Barth vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung und von Siegbert Kratzsch vom Institut für Sonder- und Heilpädagogik der Johann Wolfgang GoetheUniversität initiiert und geleitet. Friedrich Masendorf von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln hat die Beiträge nach thematischen und Gliederungsgesichtspunkten durchgesehen und geordnet.
Das Themenheft enthält Beiträge von Norbert Barth, Alfons Strathmann, Siegbert Kratzsch,* Anne Börner, Gerhard Lauth, Reimer Kornmann und Fritz Masendorf. Die von den genannten Autoren vertretenen aktuellen Arbeits- und Forschungsschwerpunkte zur 0.a. The
* Die Beiträge von Alfons Strathmann und Siegbert Kratzsch werden aus technischen Gründen erst im nächsten Heft abgedruckt.
matik sollen sich in den vorliegenden Darstellungen widerspiegeln. Die Beiträge möchten dem Leser verdeutlichen, daß Kommunikation, Handlung und Informationsverarbeitung unabdingbare Voraussetzungen im Rehabilitationsprozeß kKognitiv-retardierter Kinder und Jugendlicher sind. Diese und weitere basale Lehr-Lernbedingungen und-prozesse durch konkrete Prozesse und empirisch abgesicherte Fördermaßnahmen zu verbessern, war der gemeinsame Tenor bei den Teilnehmern dieser Tagung, wie er sich in den Vorträgen und intensiven Diskussionen herauskristallisierte. So stellt der einleitende Beitrag von Norbert Barth„Handlung als Grundlage der geistigen Entwicklung‘ den engen Wechselbezug zwischen gegenständlicher-sinnlicher Erfahrung einerseits und dem Aufbau geistiger Prozesse andererseits heraus. Der Autor greift in Anlehnung an die Arbeiten Piagets und der Aneignungstheoretiker auf das Informationsstufenmodell der geistigen Entwicklung von Radigk zurück. Auf diesem Hintergrund bearbeitet er die Fragestellung:„Welche Rolle spielt die vorverbale sinnlich-konkrete Erfahrung für die geistige Entwicklung und für den Erwerb der Laut- und Schriftsprache?‘““
In der Arbeit von Alfons Strathmann „Lernprozeßanalyse und Konsequenzen für die Lernförderung‘‘ wird dieses Anliegen u.a. konkretisiert speziell für Pbn und Schüler, die vom normalen Lernverlauf abweichen. Hierbei werden diejenigen Aktivitäten und Kommunikationsmittel beschrieben und demonstriert, die lernschwache und kognitivretardierte Schüler im laut- und schriftsprachlichen Bereich zu verbesserten Abstraktionsleistungen befähigen.
Der Beitrag von Siegbert Kratzsch„Zusammenhang von Symbolbildung und Sprachentwicklung‘“ zeigt auf, daß sich die wissenschaftshistorische Tradition einer getrennten Behandlung von emo
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991
tionaler und kognitiver Entwicklung angesichts sprachlich devianter Entwicklungsverläufe als ein Hindernis erweist. Am Beispiel der Symbolbildung im sprachlichen Entwicklungsprozeß bei Kindern wird dargelegt, daß die symbolische Organisation von Erfahrungsinhalten mit den affektiven, interaktiven, gegenstandsbezogenen und rudimentär sprachlichen Aspekten den eigentlichen Kern des Symbols ausmacht und nicht das Zeichen und seine Verwendung durch das Kind. Deshalb wird eine operational- mehrdimensionale Definition von Symbol und Symbolisierung gewählt. Eine solche Definition weist bedeutsame korrelative Zusammenhänge zwischen Maßen zur Sprachentwicklung und Indikatoren der Symbolbildung aus.
Während die vorangegangenen Arbeiten neuere Aspekte der geistigen Entwicklung und Förderung unter Berücksichtigung von Sprachretardierung akzentuieren, liegt der Schwerpunkt des Beitrages von Anne Börner auf gezielten Möglichkeiten in der Rechtschreibförderung bei sogenannten„funktionalen Analphabeten‘‘, die vorwiegend lautorientiert schreiben. Die Untersuchung zeigt eine theoretisch begründete und evaluierbare Förderkonzeption auf: wie der Übergang von der lautorientierten zur normorientierten Schreibweise lehrtheoretisch und praktisch realisiert werden kann. Dieses geschieht im wesentlichen durch paradigmatische Formen der Segmentierung.
Das von Gerhard Lauth erprobte und vorgelegte Training„Geistige Förderung. Theoretische Darlegung und praktische Vorführung eines Förderprogramms“‘ fördert vor allem die Ausbildung von handlungsorganisierenden Such-, Wahrnehmungs- und Problemlösungsstrategien gemäß der Auffassung, daß eine kognitive Retardierung vorrangig auf Mängel an metakognitiv-strategischen
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