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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
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Handlung als Grundlage der geistigen

Entwicklung

Von Norbert Barth

Ausgehend von den Arbeiten Piagets und den Posi­tionen der Aneingungstheoretiker wird der lern­theoretische Ansatz von Radigk als eine erfolgver­sprechende theoretische Grundlage zur Erfassung basaler Lernprozesse dargestellt. Im Informations­stufenmodell von Radigk spielt die vorverbale, sinn­lich-konkrete Handlung in der frühkindlichen Ent­wicklung eine grundlegende Rolle, auch für die weitere geistige Entwicklung des Kindes und speziell für den Erwerb der Laut- und Schriftsprache.

Der eigentlichen Handlung gehen komplexe geistige Prozesse voraus. Diese inneren Prozesse basieren auf psychischen Grundleistungen, die für die Qualität der Handlung und für die Qualität der gesamten geistigen Leistung entscheidend sind.

Möglichkeiten zur empirischen Erfassung der früh­kindlichen geistigen Entwicklung werden vorgestellt.

Starting from the work of Piaget and from the positions of the acquisition theorists, the approach of Radigks learning theory is discussed as a promising theoretical base for finding out about basic learning processes. In Radigks information-step model preverbal, sensual-concrete activity plays a fun­damental part during cognitive development in early childhood, als well as for the further cognitive development of the child and especially for the acquisition of sound- and writing-language.

Before the actual, real activity complex mental processes have taken place. These internal processes are based on psychical basic abilities, which are essential for the quality of the activity and for the quality of all mental achievement.

The possibility of empirically researching cognitive development in early childhood is shown.

Theoretischer Hintergrund

Piaget und seine Genfer Schule leisteten einen bedeutsamen Beitrag zur Denk­und Lerntheorie. Die Theorie der kogni­tiven Entwicklung(Piaget 1969; 1974; Piaget und Inhelder 1973) und die darin vertretene Stufentheorie hatte starken Einfluß auf die Auffassungen von der Entwicklung des Lernens. Ich möchte hier nur an die fünf Stufen der intellek­tuellen Entwicklung erinnern.

Das außergewöhnlich originelle, reich­haltige und ergiebige Forschungswerk Piagets enthält Komponenten, die für die Entwicklung der Intelligenz bedeut­sam sind, die für die Schule relevante Fähigkeiten umfassen, und die auch in einer Theorie ausgewiesen und darge­stellt wurden. Piagets Erkenntnisse dür­fen jedoch nur sehr kritisch übernom­men werden.

Die Entwicklung ist längst über Piaget hinausgegangen. Das zeigt sich in der gravierenden Kritik an den Vorgehens­weisen und Interpretationen. Hierzu drei wesentliche Punkte:

1. Piaget hat in seinen unkonventionel­len Forschungsarbeiten häufig die für seine Theorie idealtypischen Fälle aus­gewählt. Diese sind für die Realität kei­neswegs repräsentativ(vgl. Driver 1978; s. auch Piaget und Inhelder 1973).

2. Er hat nur einzelne Bereiche kogniti­ver Entwicklung untersucht. Als wesent­licher Bereich fehlt z.B. der Einfluß der schriftsprachlichen Kommunikation auf die Denkentwicklung des Menschen. Auch Piagets Untersuchungen zur Laut­sprache sind aus heutiger Sicht fragmen­tarisch. So fehlt etwa jeder Hinweis, daß die Fähigkeit zu bestimmten grammati­schen Konstellationen bestimmte Denk­entwicklungen ermöglicht.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991

3. Piagets methodisch-experimentelles Vorgehen damals seiner Zeit voraus ist nach heutigen Standards jedoch völlig unzureichend, fehlerhaft, um nicht zu sagen chaotisch. Er formulierte z.B. keine operationalen Definitionen und nannte auch nicht die Kriterien, nach denen kindliches Denken zutreffend festgestellt werden kann. Auch bei der Datenerhebung ging Piaget subjektiv­selektiv vor. Dabei war er sehr oft von einem einseitigen Bestätigungswillen ge­genüber seinen theoretischen Vorstel­lungen geleitet, d.h. er wählte die Fra­gen zumeist so aus, daß die Kinder nur im Sinne seiner Theorie antworten konn­ten und interpretierte die Ergebnisse meist recht eigenwillig. Eine zusammen­fassende Kritik an Piagets Arbeiten mit konkreten Beispielen findet sich bei Driver(1978).

Ein weiterer Beitrag zur Theorie des

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