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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Norbert Barth*

Handlung als Grundlage der geistigen Entwicklung

Denkens und Lernens wurde von den Aneignungstheoretikern geleistet. Von Galperin und Leontjew bis zu Dawydow und Lompscher zieht sich die Suche nach einer materialistischen Grundlage des Lernens, eine im christlichen humanisti­schen Abendland oft zu wenig beachte­ten Sichtweise. Die Aneignung ist nach der Theorie Galperins der Grundme­chanismus der geistigen Entwicklung des Menschen. Sie erfolgt durch äu­ßere Tätigkeiten(z.B. Spiel oder Kom­munikation) auf neurologischer Basis (s. Leontjew 1980). Die Grundvorstel­lungen und Grundbegriffe formulierte Galperin(1979, 31 ff.) wie folgt: Denken wird als verinnerlichtes, ur­sprünglich äußeres Handeln verstanden. Der Aneignungsprozeß und die Vermitt­lung kognitiver Fähigkeiten erfolgen im Unterricht durch Anleitung zur Durch­führung von Handlungen. Diese werden in der Schule nur noch selten als äußere Handlungen nachgeahmt und verinner­licht, sondern zumeist gleich auf höhe­rem Lernniveau als verinnerlichte in­terne Handlungen durchgeführt.

Der Aneignungsprozeß basiert auf einer Orientierungsgrundlage, die sich auf Ver­lauf und Ergebnis des Lernens auswirkt. Diese Phase ist dem eigentlichen Hand­lungsablauf vorgeschaltet. Dem Hand­lungsablauf(Arbeitshandlung) folgt die Kontrollhandlung. Durch die Arbeits­handlung wird auf das Objekt einge­wirkt, während die Kontrollhandlung die Funktion einer Rückmeldung über das Ergebnis hat. So ist der Ablauf der Handlung als Wechselwirkungsprozeß zwischen dem Schüler und dem Hand­lungsobjekt zu verstehen.

Jede Handlung durchläuft fünf Etap­pen, bis sie zurgeistigen Handlung wird. Dabei wird sie gleichzeitig von einer Kontrollhandlung begleitet.

Die Aneignungstheorie kann auch nicht kritiklos als theoretische Grundlage einer Diagnostik akzeptiert werden. Die Theorie wird von ihren Vertretern zwar als materialistisch verstanden, aber sie bezieht sich im wesentlichen darauf, daß in einem Transformationsprozeß das ge­sellschaftliche Erbe privatisiert(angeeig­net) wird. Nach der Aneignungstheorie findet(symbolisch gesehen) ein ständi­

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ges Umladen aus dem gesellschaftlichen Waggon in den Privatwagen statt, wobei jeweils die 5 Stufen des typischen Lern­prozesses reproduziert werden. Dabei sind die individuellen Formen des Ler­nens jedoch ausgeklammert: Wo bleibt nach Auffassung der Aneignungstheore­tiker die selbst entwickelte Aktivität des Schülers, wo bleibt die Motivation und wo die Kreativität? Der Mensch kann sich nach diesem starren Schema des Vorgehens auch kaum durch Versuch und Irrtum erproben. Wo bleiben nach der Aneignungstheorie die vom Schüler selbst entwickelten Verarbeitungsstrate­gien, die schließlich die Grundlagen jedes Lernprozesses bilden?

Die erste Stufe oder Phase, die sich auf die gegenständlichen Operationen be­zieht, wird nicht genügend berücksich­tigt. Diese erste Informationsstufe wird in der Aneignungstheorie nur als Orien­tierung verstanden und in den Lern­theorien der westlichen Welt nur als Wahrnehmung oder Perzeption gesehen. Die Aneignungstheorie beschäftigt sich zwar mit der Sprache, aber die Schrift­sprache und ihre Rückwirkungen kom­men in der Theorie so gut wie nicht vor. Damit fehlt eine sehr wesentliche Stufe geistiger Entwicklung fast völlig.

Die Theorie ist zu eingeschränkt und eingleisig. Sie basiert auf einer zu star­ren Sicht der Aufeinanderfolge entwick­lungspsychologisch begründeter Leistun­gen. Dies führt zu Schematisierungen und zur Umsetzung in starre Curricula.

Ein weiterer erfolgversprechender An­satz zur geistigen Entwicklung wurde durch die am Lernprozeß orientierte Kommunikationstheorie von Radigk vor­gelegt. Dazu gibt es auch inzwischen empirische Untersuchungen(vgl. Ra­digk 1975 sowie Strathmann 1985). Ausgehend von Pawlows Signalsystemen, den Erkenntnissen Piagets und den Positionen der Aneignungstheoretiker verstehr Radigk das Lernen als hierar­chisch aufgebauten und wechselseitig aufeinander bezogenen Prozeß der kognitiven Entwicklung des Menschen. Dabei geht er von drei Annahmen aus: 1. Alles Denken vollzieht sich auf der materiellen Basis des ZNS.

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2. Alles Lernen beruht auf Kommuni­kation. 3. Alles Lernen entwickelt sich von außen nach innen.

Der Theorie liegt ein umfassender Kom­munikationsbegriff zugrunde, der nicht nur die Übertragung von Informationen zwischen Sender und Empfänger bein­haltet, vielmehr ist hier der allgemeine Informationsaustausch zwischen dem Lernenden und seiner Umwelt im wei­testen Sinne gemeint. Eine weitere Grundlage der Theorie ist die dem Men­schen eigene Fähigkeit, Erfahrungen und Bewußtseinsinhalte zu kodieren. Die Reize und Vorgänge aus der Um­welt werden verinnerlicht und zu inne­ren geistigen Operationen. Dies ist der entscheidende Schritt in der geistigen Entwicklung des Menschen. Durch die­sen Prozeß wird der Mensch aus der unmittelbaren Beziehung zur Wahr­nehmung gelöst und kann über Infor­mationen und Operationen frei verfü­gen. Voraussetzung dieses Verinnerli­chungsprozesses und der Fähigkeit zur Kommunikation ist die wechselseitige Entwicklung derpsychischen Grund­leistungen, die sich dann zufunktio­nellen Systemen zusammenschließen. Das fördert wiederum die Fähigkeit zur weiteren Kommunikation. Der Prozeß des Denkens ist die Anwendung der ge­lernten verinnerlichten geistigen Opera­tionen. Dies ist auch die Voraussetzung, höhere Signalsysteme zu bilden und so­gar Meta-Ebenen zu entwickeln.

Die erste Informationsstufe umfaßt das nichtverbale Abstrahieren und Verinner­lichen der Wirklichkeit(s.u.).

Die zweite Informationsstufe umfaßt für Vollsinnige in erster Linie die Lautspra­che. Durch das Erlernen dieser Kodie­rungsform wird der Mensch von der un­mittelbaren natürlichen Realität unab­hängig und vermag weiter zu abstrahie­ren, als dies bei gegenständlichem Denken der Fall ist. Jetzt kann er Begriffe schaf­fen und faßbar machen, die im bildhaften Denken nicht enthalten sind. Die Be­wußtseinsinhalte der ersten Informa­tionsstufe werden in einen komplexen Kode umkodiert. Höhere Fähigkeiten, wie Verallgemeinerung, planendes Han­deln und abstraktes Denken, werden

FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991