damit in wesentlich größerem Maße möglich. Nach Piaget und den Aneignungstheoretikern führt dies zur Verinnerlichung der Sprache und zum praktischen Denken(Interiorisation).
Die dritte Informationsstufe umfaßt die Schriftsprache. Die dritte Kodierung ist eine Abstraktion und Formalisierung der zweiten Kodierung(der Lautsprache). Sie führt zu einem völlig neuen zeit- und personenunabhängigen Kommunikationssystem, das auf graphischfiguralen Strukturen beruht. Der Erwerb dieser höchsten Stufe führt auch zu einem höheren kognitiven Entwicklungsniveau. Erst mit Hilfe der Schriftsprache gelingt es dem Menschen, präzise zu formulieren, komplizierte Strukturen zu gliedern, zu hohen Abstraktionen zu gelangen und schließlich das formale Denken zu produzieren(Barth 1988a, S. 50).
Die Informationsstufen sind als Qualitätsstufen unseres Denkens zu verstehen. Sie bauen aufeinander auf und beeinflussen sich wechselseitig, so daß die Leistungen der höheren Stufen auf die der unteren Stufen einwirken. Andererseits gehen die einfachen Leistungen stets in die komplexeren ein, werden integriert und bilden Bestandteile und Basis der höheren funktionellen Systeme. Dabei spielt nicht nur das funktionelle System, das die geistigen Operationen ermöglicht, eine entscheidende Rolle, sondern auch die Art des Kommunikationssystems. So enthält etwa unsere Sprache durch ihren Aufbau bereits bestimmte Möglichkeiten, Dinge und Verhältnisse differenziert zu kennzeichnen oder operativ zu ordnen, die dann in den inneren geistigen Prozessen zu Trägern der Handlung werden. Schließlich sind in der Sprache die gesellschaftlich entstandenen Denkmöglichkeiten bereits enthalten. Der Mensch eignet sie sich an und lernt es, sich die Operationen innersprachlicher Prozesse zu erschließen. Der ersten Informationsstufe kommt auch pädagogisch besondere Bedeutung zu, da sie grundlegend für die weitere geistige Entwicklung ist (Barth 1987).
Die neue Lerntheorie steht auf neurophysiologischen Grundlagen, wie die
Norbert Barth*
erste Annahme deutlich macht. Wenn wir davon überzeugt sind, daß alles Psychische aus materiellen Prozessen resultiert, dann kann geistige Entwicklung nicht gegen die Grundgesetze dieser Prozesse verstoßen. Die Kenntnis der neurophysiologischen Voraussetzungen ist für Radigk zum Verständnis der kognitiven Entwicklung unabdingbar.
Radigk stellte Gesetzmäßigkeiten des Denkens auf und konnte sie statistisch belegen. Dabei sind die Informationsstufen, die Radigk zur Beschreibung der Kommunikationssysteme verwendet, nicht völlig neu(Radigk 1970). Neu ist jedoch der systematische Aufbau innerhalb der Informationsstufen und die Ableitung der Stufen aus den Erkenntnissen der Neurophysiologie(Radigk 1986, Barth 1988 b).
Haupterkenntnisse aus der Informationsstufentheorie:
Zwischen Sprache und Denken besteht ein besonderer Zusammenhang. In verschiedenen Unteruschungen zeigten sich übereinstimmend die engen Beziehungen zwischen dem gegenständlichen, lautsprachlichen und schriftsprachlichen Handeln auf der einen Seite und den geistigen Operationen auf der anderen Seite. Unsere geistige Entwicklung hängt in besonderem Maße von der Art und dem Ausbildungsgrad der Kommunikationssysteme ab. Die Denkmöglichkeiten eines Gehörlosen etwa, der z.B. nur die Gebärdensprache beherrscht, enden im konkret vorstellenden Bereich, weil für abstrakte Inhalte nur sehr begrenzte Denkmittel zur Verfügung stehen. Wenn es zum Beispiel um komplizierte Relationen und Wertigkeiten geht, läßt sich dies nicht mit Gebärden formalisieren und deshalb auch nicht„denken“‘. Viele Lernprozesse in der Schule enden dort, wo die sprachlichen Möglichkeiten das logisch-schlußfolgernde Denken, das Verallgemeinern und formelhafte Zusammenfassen nicht mehr erlauben. Lernen ist jedoch nicht allein sprachabhängig. In. den Lernprozeß gehen außer der Sprache vor allem die gegenständlichen Erfahrungen und Handlungen sowie die schriftsprachlichen Fähigkeiten ein.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991
Handlung als Grundlage der geistigen Entwicklung
Die erste Informationsstufe, die Stufe der konkreten sinnlichen Erfassung, ist für unsere geistige Entwicklung grundlegend.
Grundlage der geistigen Entwicklung— die Handlung
Urquell der geistigen Entwicklung ist die Handlung. Das läßt sich auch stammesgeschichtlich nachweisen. Die Entwicklung der psychischen Grundleistungen, die Entwicklung der Kommunikation sowie der Lern- und Denkprozesse insgesamt basieren auf der Handlung, auf dem Operieren mit der Umwelt.
Die erste Informationsstufe umfaßt das nichtverbale Abstrahieren und Verinnerlichen der Wirklichkeit. Auf dieser Stufe vollzieht sich das gegenständliche konkrete sensomotorische Lernen. Dies ergibt ein System der Kodierungen von Erfahrungen, die sich durch die unmittelbare Wahrnehmung der Wirklichkeit als Sinngehalte und Vorstellungen gebildet haben. Der Beginn ist also sinnlicher Art. Den Ausgangspunkt bildet der handelnde Umgang mit der Realität. In der ersten Informationsstufe sind bereits die grundlegenden Fähigkeiten, die psychischen Grundleistungen, enthalten, mit denen das Kind später die höheren Fähigkeiten der weiteren Informationsstufen entwickelt.
Nach der Theorie ist davon auszugehen, daß im Handlungsvorentwurf alle geistigen grundlegenden Fähigkeiten, alle psychischen Grundleistungen, vorhanden sind und durch Handlung funktionelle Systeme bilden. Wenn also die Handlung bereits so vieles voraussetzt, dann muß der weitere Entwicklungsprozeß nach der Informationsstufentheorie so verlaufen, daß die niederen Leistungen auf Handlungsebenen in die höheren eingehen, das heißt die Fähigkeiten z.B. der Analyse und Synthese im gegenständlichen Handeln gehen in die Analyse und Synthese sprachlichen Handelns ein. Von daher ist auch eher eine positive Korrelation zwischen Handlungs- und Sprachkompetenz zu erwarten.
Die vorverbale Handlung ist hier von besonderer Bedeutung. Der eigentli
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