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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Norbert Barth*

Handlung als Grundlage der geistigen Entwicklung

chen Handlung, die sich letzten Endes zeigt, gehen komplexe geistige Prozesse voraus. Dies sind innere unsichtbare Pro­zesse, die jedoch für die Qualität der Handlung und für die Qualität der ge­samten geistigen Leistung entscheidend sind. Einige Handlungen sind hier aus­drücklich nicht gemeint: Affekthand­lungen und automatisierte Handlungen wie etwa die nicht bewußt ablaufenden Bedienungsvorgänge beim Autofahren (die über extra-pyramidale Nervenbah­nen laufenden Handlungen). Ich meine, daß nicht die Handlungsausführung, sondern die geistigen Prozesse, die vor der Handlung im engeren Sinne liegen, die bedeutsameren Leistungen darstel­len, die auch für den Erfolg hauptver­antwortlich sind. Jede vernünftige sinn­volle Handlung bedarf vor ihrer Ausfüh­rung in unserem ZNS einer intellektuel­len Vorphase. In dieser entscheidenden Phase wird ein Handlungsvorentwurf erstellt. Der erforderliche Entwurf eines Handlungsplanes setzt auch bei Kleinstkindern bereits alle grundlegen­den geistigen Fähigkeiten voraus, auch so komplexe psychische Grundleistun­gen wie vergleichen und differenzieren können, analysieren und synthetisieren können, antizipieren und hypothetisch denken können, also teilweise schon Kreativität.

Die Qualität der Handlung hängt na­türlich auch sehr von der Quantität ge­speicherter Sinngehalte ab, aus denen wir auswählen und mit denen wir ver­gleichen können. Die Sinngehalte, die wir als Erfahrungsschatz speichern wol­len und zu unserer Lebensbewältigung speichern müssen, entstehen durch die Kombination der Grundleistungen, die in den funktionellen Systemen zusam­menwirken. Die einfachen Grundlei­stungen bieten dabei die Vorausset­zung, während hauptsächlich die kom­plexeren Grundleistungen die Sinner­schließung sowie Kontroll- und Steue­rungsfunktionen für die Handlung voll­bringen. Die Sinngehalte sind das Ergeb­nis, das wir nach praktischem Handeln durch geistige Operation gewinnen.

Wohlgemerkt, die konkrete Handlung und Problemlösung eines Kindes, das

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bereits über Sprache verfügt oder eines Erwachsenen sind niemals völlig frei von verbalen Leistungen. Nach der Informa­tionsstufentheorie, oder auch Kommuni­kationstheorie genannt, ist es auch nur natürlich und zeugt von gelungener op­timaler geistiger Entwicklung, wenn Lei­stungen der höheren Informationsstufen, d.h. geistige Leistungen auf dem Niveau der Laut- und Schriftsprache, auch kon­kretes gegenständliches Handeln beein­flussen und alle geistigen Leistungen sich wechselseitig durchdringen. Meine Fra­gestellung hebt jedoch auf die grundle­gende Bedeutung geistiger Leistungen allein auf der ersten Informationsstufe ab. Für diese Fragestellung muß ich eine analytische sezierende Sichtweise bemü­hen. Eingedenk der grundsätzlichen Ver­mischung zwischen reinen Handlungs­Leistungen und sprachlichen Leistungen in der Realität geistigen Handelns, bleibt jedoch zu klären, ob es nicht dennoch möglich ist, durch Testaufgaben mit möglichst einseitigem Handlungscharak­ter, hinlänglich gültige Informationen über den Entwicklungsstand auf der er­sten Informationsstufe zu erhalten.

Zur Aufhellung der Entwicklung auf der ersten Informationsstufe können Inter­view- und Fragebogentechniken einen meßtechnischen Zugang bieten. Ich möchte diese verhältnismäßig einfache Möglichkeit jedenfalls nicht ungeprüft auslassen.

Durch Interviews mit den Eltern und Erziehern über die etwa sechs Jahre alten Kindern läßt sich zunächst der große Bereich unterschiedlicher Einzel­heiten über eventuell einflußreiche Um­stände in der Entwicklung der Kinder während ihrer ersten Lebensjahre erfra­gen. Dies ist vorläufig eine ungebundene Form der Datensammlung, die nach Aus­wertung präzisiert und zielgerichteter in ein gebundenes Interview oder in einen Fragebogen oder schließlich in einen Fragebogen-Test umformuliert werden soll. Ein solches Instrumentarium läßt sich natürlich auch für die Eltern jüngerer Kinder und Kleinstkinder aufstellen, wo­bei sich dann die Fragen auf einen enger begrenzten Zeitraum beziehen. Inzwischen liegt auch eine interessante Diplomarbeit von H. Huflage und U.

HEILPÄDAGOGISCHE

Freund der Universität Frankfurt vor. Es geht darum, verschiedenen Gruppen, insbesondere Lernbehinderten und Re­gelschülern, eine unstrukturierte kom­plexe Aufgabe zum Zusammenbau von bunten Bauteilen vorzugeben. Bei einer der Aufgaben von Radigk, die auf polni­sche Spielzeuge basieren, werden Teile (Hölzer, Stifte und Fäden) zusammen­gebaut. Bei entsprechender geistiger Lei­stung auf der ersten Informationsstufe ergibt sich daraus ein funktionsgerecht fahrender Zug als Endprodukt.

Ich möchte hier mit folgender Akzentu­ijerung ansetzen:

Für eine empirische Untersuchung ist es erforderlich, operational zu definieren: Der Begriffsinnvolle-vernünftige Hand­lung wird hier eigens durch Testaufga­ben definiert. Dabei ist darauf Wert zu legen, daß die Lösung eindeutig ist. Bei Handlungsaufgaben läßt sich noch das präzisierende Kriteriumfunktionsge­recht bzw.erfolgreich zur Prüfung anwenden. Das heißt, die Handlungs­aufgaben müssen zu Ergebnissen führen, die eine bestimmte Funktion und Wir­kung eindeutig erkennen lassen. Die in­haltliche Bestimmung der geforderten Leistungen sind theoretisch sorgfältig zu begründen. Als Bindeglied zwischen Theorie und Prüfstand der Praxis sind ihre Inhalte aus der Denk- und Lern­theorie von Werner Radigk abzuleiten. Dabei ist es erforderlich, Handlungsauf­gaben und Probleme zu finden, für deren Lösung das Kind möglichst ausschließ­lich psychische Grundleistungen auf der ersten Informationsstufe benötigt. Außerdem ist besonderer Wert auf den Aufforderungscharakter des Materials zu legen, da die Kinder zunächst keine genaue Aufgabeninstruktion erhalten, sondern sich das Problem und das Ziel der Handlung möglichst selbst setzen. Darüber hinaus ist die Situation für das Kind zunächst recht unstrukturiert. Deshalb ist es andererseits notwendig, das Material wenigstens teilweise soweit vorgeformt anzubieten, daß das Kind relativ schnell Ansätze für eigene Ideen gewinnen kann.

Das gesamte Lösungsverhalten der Kin­der wird von mindestens zwei Video­

FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991