„Nehmen, wenne das so sachst, ist da ein ha drin“- Wege funktionaler Analphabeten zur Normschrift?
Von Anne Börner
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Schreiblernentwicklung funktionaler Analphabeten, Im Zentrum der Betrachtung steht der Übergang von der Lautorientierung zur Normschrift, Anhand von 7 Fallstudien lautorientierter Schreiber im Alter von 16 bis 19 Jahren wurde der Übergang exploriert und Informationen über charakteristische Lernschritte gewonnen, Wesentliches Ergebnis ist, daß für den Übergang von der Lautorientierung zur Normschrift entscheidend zu sein scheint, daß Schreiber lernen, den Zeichenstrom unter dem Aspekt der Analogiebildung, also paradigmatisch, zu segmentieren,
This article deals with developing the writing ability in functional illiterates, Central to the discussion is the transformation from a phonological strategy to orthography. In 7 case studies involving males and females 16 to 19 years of age who were on a phonological stage this transformation is explored and information about typical steps of learning is extracted, One important result consists of the fact that it seems to be important in the transformation from a phonological strategy to orthography to segment words under the aspect of finding analogies that is to use a paradigmatic approach,
Stand des Problems
Nach Schätzzahlen der UNESCO besitzen in der Bundesrepublik Deutschland (ohne das Gebiet der ehemaligen DDR) ca. 3 Millionen Jugendliche und Erwachsene zu wenig Schriftsprachkenntnisse, um in ausreichendem Maß an den beruflichen und gesellschaftlichen Aktivitäten teilhaben zu können. Sie sind von daher als funktionale Analphabeten zu bezeichnen. In der sonderpädagogischen Forschung zum Schriftspracherwerb spielte dieser Personenkreis bislang nur eine untergeordnete Rolle, da das beforschte Klientel vorwiegend Kinder sind.
In neueren Forschungen zur Schriftsprachentwicklung von Kindern(u.a. Frith, 1986; Günther, 1986; Valtin& Naegele, 1986; Brügelmann, 1986b; May, 1990 sowie Spitta, 1991) wird Schriftspracherwerb als aktiver, regelgeleiteter, hypothesen-testender Erwerbsprozeß(Spitta, 1991) gesehen.
Schreiblernentwicklung verläuft demnach in einer charakteristischen Abfolge(vgl. Abb. 1; auf die Darstellung der präliteral-symbolischen und der integrativ-automatisierten Phase(Günther, 1986) wurde hier verzichtet).
Mit diesem Modell ist auch der(gestörte) Lernprozeß funktionaler Analphabeten beschreiben. Einerseits ist ihr Lernprozeß verschieden von dem der Kinder, da die typische Abfolge der Stufen durchbrochen wird. In Schreibprodukten funktionaler Analphabeten existieren parallel Fehler, die unterschiedlichen Stufen der Schreiblernentwicklung zuzuordnen sind(Börner, 1990). Andererseits ist ihr Lernprozeß dem der Kinder ähnlich, da in Übereinstimmung mit der Schreibentwicklungstabelle durchaus„vorwiegende‘ Schreiblernstände auszumachen sind. Funktionale Analphabeten machen von daher ähnliche Fehler wie Kinder, sie machen sie nur zum falschen Zeitpunkt(Brügelmann, 1986).
Sieht man(Recht)Schreiblernen als
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991
Denkentwicklung, so ist es die Aufgabe der Schreiber, sich(deklaratives und prozedurales) Wissen über den Gegenstand Schriftsprache anzueignen. In diesem Kontext haben Schreibfehler eine wichtige Funktion im Lernprozeß. Sie sind notwendige Phasen der„Theoriebildung‘(Spitta, 1991). Sie markieren positiv den jeweiligen Wissensstand und geben Einblick, welche individuellen Hypothesen die Schreiber über die Struktur der Schriftsprache haben(Brügelmann, 1986b). Mit dieser Neudefinition des Fehlerbegriffs verändert sich die didaktische Orientierung. Schreibfehler sind nicht zu vermeiden oder frühzeitig zu verhindern, im Gegenteil: „Wer zuwenig Fehler macht, obwohl die Fehler notwendig wären, lernt zu wenig‘“(May, 1990, 253). Fehler sind von Schreibern und Lehrern zu reflektieren und zu explorieren. Den Schreibern wird dadurch ihr eigenes Denken, ihr Wissen über Schriftsprache bewußt und transparent, Lehrer können so die Fehler und
165
ZA