Anne Börner* Wege funktionaler Analphabeten zur Normschrift
logographische Stufe:
vorherrschend visuelle Strategie
Leistungen: Erfassen von komplexen Einheiten und hervorstechenden
Details
a) Ganzworterkennen bei kurzen Wörtern
b) Orientierung an und Speichern von wortcharakteristischen hervorstechenden Details/ Teilelementen(Kontur, Länge, graphische
Ähnlichkeit);
Charakteristische Technik:
- diffuses Ganzworterkennen("Ratestrategie");
- Reproduktion(weniger) gemerkter(kurzer) Wörter;.
- Abbildung von hervorstechenden Teilelementen, wobei die Reihenfolge der Elemente bedeutungslos ist;
alphabetische Stufe:
Leistungen:
vorherrschend sequentielle Strategie
a) Erfassen der Graphem-Phonem-Korrespondenz- Regel; b) Analyse der Wörter nach der sequentiellen Abfolge ihrer
Elemente;
Charakteristische Technik:
- vorlautierendes ,synthetisierendes Vorgehen; - stark phonetische, sequentielle Abbildung der Laute eines
Wortes;
orthographische Stufe: vorherrschend Klassifikation nach strukturellen Regelmäßigkeiten der Schriftspr.
Leistungen:
a) linguistische Strukturprinzipien(z.B. Wortbildungsregeln) und b) Rechtschreibkonventionen werden beachtet;
Charakteristische Technik:‘
- Erkennen und Nutzen von Wortteilgestalten(Signalgruppen; Morpheme); - Rechtschreibmuster bilden sich heraus;
Abb. 1: Aneignungsphasen beim Schriftspracherwerb(in Anlehnung an Frith, 1986; Günther,
1986).
deren dahinterliegenden„Theorien“ verstehen und zur Organisation und Planung der nächsten Entwicklungsschritte nutzen.
Fragestellung
Wie gelangt nun ein Schreiber von der lautorientierten Phase zur Normschrift? Frith(1986) geht von einer Umorganisation des Wissens aus, welche durch Widersprüche zwischen Lese- und Schreibstrategie ausgelöst wird und verweist darauf, daß ältere Strategien mit neuen verschmolzen werden(ähnlich auch Günther, 1986). Spitta(1991) datiert den Übergang auf den Zeitpunkt, wo über
166
die bisher dominante Schreibstrategie routiniert verfügt wird, so daß eine Beschäftigung mit neuen Teilaspekten der Schriftsprache erfolgen kann. Es besteht aber bislang weitgehend Unklarheit darüber, welches deklarative und prozedurale Wissen charakteristisch für den Überang von der Lautorientierung zur Normschrift ist, und in welchen Teilschritten sich dieser vollzieht.
Beobachtungen aus vierjähriger praktischer Arbeit mit funktionalen Analphabeten zeigen die Notwendigkeit der Klärung eben dieser Frage. Von der Lautorientierung zur Normschrift zu gelangen oder zumindest erkennbare Schritte auf dem Weg dahin zurückzulegen, erwies sich als schwierige Klippe. Es gab wenig Möglichkeiten, Lernschritte in
diesem Lernbereich diagnostisch zu erfassen, dementsprechend„zufällig“ waren die Interventionen. Sie orientierten sich in dieser Phase des Schreiblernprozesses zunächst am traditionellen Konzept der Erarbeitung isolierter Rechtschreibphänomene anhand von Wörtern des Grundwortschatzes. Dies führte selten zu sichtbaren, dauerhaften Erfolgen. Stattdessen war eine fortwährende Überforderung und Verunsicherung der Schreiber(Habe ich alle Regeln beachtet? Ist das Wort eine Ausnahme von der Regel?) zu beobachten(vgl. dazu auch Spitta, 1991, die ähnliches für das Rechtschreiblernen bei Kindern konstatiert).
Die Fragestellung des Forschungsvorhabens lautete also: Wie ist der Übergang von der lautorientierten zur normorientierten Schreibweise für funktionale Analphabeten aufzuklären und welche theoretisch abgeleitete, empirisch begründeten und in ihren Effekten zu evaluierende Förderkonzeption erwächst daraus? Ausgegangen wurde dabei von folgenden theoretischen Vorannahmen:
(1) Die wesentlichen Schreiblernvoraussetzungen(u.a. das Wissen über den Gebrauchswert von Schriftsprache) sind bei funktionalen Analphabeten vorhanden. (2) Der Aneignungsprozeß in dieser speziellen Phase der Schreibentwicklung besteht nicht(nur) in der additiven Anhäufung von Informationen. Schriftspracherwerb im Übergang von der Lautorientierung zur Orthographie bedeutet eine qualitative Umstrukturierung des Denkens. Nach dem Erwerb des visuellen und des alphabetischen Prinzips sind schriftsprachliche Sachverhalte neu zu strukturieren. Aus dem linearen Zeichenstrom der gesprochenen Sprache sind wiederkehrende Strukturteile herauszulösen, zu klassifizieren(„Fälle von...“) und adäquat in Schrift umzusetzen (Börner, 1989). Diese Neustrukturierung bezeichne ich als paradigmatisch.
(3) Handelnder Umgang mit Sprache besteht nicht nur in der konkreten Form der Schreibtätigkeit, metasprachliches Wissen ist eine zweite, abstrakte(re) Form des handelnden Umgangs. Forschungsarbeiten zum Erwerb der Schriftsprache betonen die Notwendigkeit, Schrift
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991