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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Unterstützung für die These angesehen werden, daß der entscheidende Schritt zur Normschrift der der Klassifikation von bekannten, invarianten Einheiten ist, und nicht(nur) das Merken von Rechtschreibregeln.

Zusammenfassung der Ergebnisse der Fallstudien und Diskussion im Hinblick auf die Förderkonzeption

Bei den untersuchten Jugendlichen mit lautorientiertem Lernstand waren ent­gegen aller Vermutungen wesentliche Schreiblernvoraussetzungen(u.a. der Gebrauchswert von_Schriftsprache) nicht oder nur unzulänglich vorhanden. Sie betonten alle, daß‚man schreiben können muß, nutzten aber selber das Schreiben mit Ausnahme eines Teilneh­mers, der Brieffreundschaften pflegt, kaum. In der Regel war Schreiben für sie gleichbedeutend mit mechanischem Üben. Sie hatten zum Teil noch Schwie­rigkeiten mit den gängigen Satzzeichen, einige konnten nicht zwischen Wort und Wortteil differenzieren.

Die erste der theoretischen Annahmen, unter denen die Fallstudien begonnen wurden, erwies sich damit als unzutref­fend(vgl. dazu Börner, 1991, wo aus­führlich die Ergebnisse der ersten Fall­studienserie dargestellt wurden). Obwohl die Jugendlichen 810 Jahre Schulbe­such hinter sich hatten, ähneln die Er­gebnisse denen der Untersuchung von Renate Valtin(1987), die nachwies, daß Erstkläßler bis zum Ende des ersten Schuljahres die grundlegenden Schreib­lernvoraussetzungen noch nicht bzw. nur unvollständig erworben haben. Es stellt sich die Frage, wie funktionale Analpha­beten diese fehlenden Schreiblernvoraus­setzungen erwerben können. Dabei geht es um die Bearbeitung des Widerspruchs, daß die Schreiber zwar schreiben lernen wollen, weil ‚man brauch es ja später auch emol, ihre reale Lebenspraxis aber dieser, von außen an sie herange­tragenen Motivation entgegensteht.

Für die Wichtigkeit der qualitativen Neustrukturierung Sschriftsprachlicher Sachverhalte inFälle von... zu die­

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Anne Börner* Wege funktionaler Analphabeten zur Normschrift

sem Zeitpunkt der Schreiblernentwick­lung konnten wesentliche Hinweise ge­funden werden. Nach der bisherigen Aus­wertung der Fallstudiendaten sowie der Auswertung der Literatur(hier vor allem zur gestörten Sprachentwicklung) scheint entscheidend für den Übergang von der Lautorientierung zur Orthographie zu sein, daß Schreiber den Zeichenstrom unter neuem Aspekt, nämlich dem der Analogiebildung, segmentieren. Erst diese neue, paradigmatische Form der Segmentierung sichert im Zusammen­spiel mit bisherigen Strategien den siche­reren Zugriff auf detaillierte Verschrif­tungskonventionen.

Dekomposition von Einheiten mittels Analogiebildung ist die Voraussetzung, um Wörter bzw. Wortteile inFälle von...* zu klassifizieren. Wenn nicht dekomponiert werden kann bzw. der Grad der Dekomposition relativ niedrig bleibt und/oder keine Analogiebildun­gen vorliegen, stattdessen aber der Zei­chenstrom ausschließlich über den Zu­griff des Merkens und/oder die sequen­tielle Segmentierung verarbeitet wird, gelingt eine Transferbildung nicht. Es tauchen zumindest bei unbekannte(re)n Wörtern Rechtschreibprobleme auf(vgl. dazu die Ergebnisse des LiR-Untertests 4 Nachnamendiktat, Tab. 2).

Schöler& Lindner(1990) nehmen an, daß Klanganalogien und Analogiebildung nach dem Sinn in einem Zusammenhang stehen: Zunächst findet die Modell-Su­che auf der Ebene der Klangoberfläche, der Lautgestalt statt. Schöler& Lindner bezeichnen dies alsschnellen Suchpro­zeß. Erst wenn diese Analyse nicht be­friedigend abläuft, werden weitere Merk­male hinzugezogen, wobei allerdings ein Mehr an deklarativem Wissen über schrift­sprachliche Strukturen notwendig ist. Schöler& Lindner sprechen in diesem Zusammenhang von der kontrollierten, willentlichen Suche,

Aus den Fallstudiendaten gibt es einige Hinweise, daß Schreiber, die Wörter se­quentiell segmentieren, recht gut Ana­logien nach Funktionsteilen bilden kön­nen, wenn es um Präfixe geht. Die Seg­mentierung von Präfixen geht auf der Klangoberfläche oft mit der sequentiel­len Segmentierung nach Silben überein.

Darüber hinaus gibt es Beispiele, daß es Schreibern schwer fällt, Analogiebildung nach Sinnteilen vorzunehmen. Parallele Hinweise dazu gibt es auch über den liR, da Klanganalogien(UT 6Reimwörter) bis auf Anlautchunks recht früh gekonnt, Sinn und Funktion aber erst nach der Aufnahme von mehr Strukturwissen (UT 8Höre den Wortbaustein heraus; UT 12Mache aus Wortbausteinen neue Wörter) bedacht werden. Nach dem bisherigen Stand der Auswertung konn­ten jedoch keine eindeutigen Hinweise für einen von 0.g. Autoren propagierten Zweistufenprozeß gefunden werden, der von allen Schreiber im Zuge der Schreib­lernentwicklung durchlaufen wird. Es scheint eher so zu sein, daß die individu­ellen Wissensvoraussetzungen entschei­dend für die möglichen Analogieformen sind.

Förderangebote sollten vorwiegend dar­auf ausgerichtet sein, die individuellen Voraussetzungen für Analogiebildungen zu erheben und ggfs. nachzubessern so­wie dann die paradigmatischen Struktu­ren der Schriftsprache aufzudecken und zu üben. Dies erfordert ein Abgehen von der Erarbeitung isolierter Rechtschreib­phänomene vermittels detaillierter Ein­zelregeln, zu denen jeweils auch noch diverse Ausnahmen zu lernen sind. Es geht zunächst darum, die Klassifikation von gleichen Sinn-, Klang- und Funk­tionsteilen zu erarbeiten, womit so unterschiedlicheRegelbereiche wie (De)Komposition von Wortteilen, Ab­leitung/Verlängerung, Verschriftung von Längen und Kürzen zu bewältigen sind. In einem späteren Schritt sind mögli­cherweise Details mittels einiger Regeln nachzureichen. Um sich der Normschrift zu nähern, müssen Schreibergedankli­che Klarheit(Valtin, 1987) über die Struktur der Schriftsprache gewinnen, statt isoliert Einzelregeln nebst Aus­nahmen zu trainieren.

Ob explizites metasprachliches Wissen (Schöler, 1989) und die Versprachli­chung schriftsprachlichen Handelns(An­dresen& Januschek, 1984) notwendig sind, um von der Lautorientierung zur Orthographie zu gelangen, konnte nicht hinreichend erwiesen werden. Allerdings war auffallend, daß die Jugendlichen zu

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991