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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Gerhard W. Lauth*

erkannt worden war(Lauth& Garten, 1980).

Um überdauernde Strategien auszuarbei­ten, ist aber die sichere Verfügbarkeit dieser inhaltlichen Momente unerläß­lich. Denn um zu wissen, wie man etwas tun muß, ist die Kenntnis unerläßlich, was dabei eine Rolle spielt.

Über dieses im engeren Sinn bereichsspe­zifische Wissen hinaus liegen Untersu­chungen zum(metakognitiven) deklara­tiven Wissen retardierter Kinder vor, aus denen deutlich wird, daß sie auch nur über ein geringes Wissen über ihr eigenes kognitives System verfügen.

So zeigten Brown, Campione& Murphy (1977) Kindern im Intelligenzalter von 68 Jahren zehn Bilder und fragten sie, wieviele davon sie glaubten, in einem an­schließenden Gedächtnistest wieder er­innern zu können. Nur etwa 25% von ihnen konnten ihre Gedächtnisspanne realistisch einschätzen; alle Kinder je­doch, die ihre prinzipielle Leistungsfä­higkeit unrealistisch beurteilten, über­schätzten ihre tatsächliche Erinnerungs­fähigkeit oft in extremer Weise.

Dieses Ergebnis verdeutlicht, daß Lern­gestörte aufgrund ihres eingeschränkten (metakognitiven) deklarativen Wissens kaum eine Notwendigkeit sehen, Stra­tegieplanungen vorzunehmen oder ihr Handeln metakognitiv zu begleiten(z.B. aktives Memorieren, sprachliche Selbst­anleitung). Vielmehr glauben sie, das Handlungsziel ohne weitere Hilfsmittel erreichen zu können.

Emotionale Besetzung von Lernhandlungen und Motivation

Lerngestörte bzw. lernbehinderte Kin­der erbringen die von ihnen erwarteten Leistungen nicht und erleben daher häufig Mißerfolge. Diese Versagenser­lebnisse haben wesentliche Auswirkun­gen auf ihre Motivation, ihr Begabungs­selbstbild sowie die Erwartung, welche Folgen ihre Lernhandlungen haben wer­den. Langfristig verdichten sich die Ver­sagenserlebnisse zu einem negativen Be­gabungsselbstbild, das motivierte Hand­lungen in den mißerfolgsbesetzten Be­reichen immer weniger wahrscheinlich werden läßt. Diese Kinder meiden Lern­anforderungen bis zum völligen Anstren­

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Entwicklungsförderung bei sozial-kognitiver Retardierung

gungsverzicht, weil sie nicht glauben, die sozial verbindlichen Ziele erreichen zu können. Diese Überzeugung verhindert wiederum, daß sich die Kinder die un­zureichend beherrschten Fertigkeiten schrittweise aneignen(Garten& Lauth, 1980).

Damit steht im Einklang, daß sich die Handlungen von Lernbehinderten in schwierigen Situationen oft durch eine geringe Stetigkeit sowie durch das Nicht­einhalten von Regeln(z.B. Clownerie, ausweichen, raten, Abbruch der Lern­handlung) auszeichnen(Borys, Spitz& Dorans, 1981). Dieses Verhalten spiegelt also die bestehende emotional-kognitive Überforderung wieder und trägt zu unzu­reichenden Handlungsergebnissen bei, die wiederum die negativen emotiona­len Besetzungen bestätigen.

Zur Interdependenz der Einzelfaktoren

Aus dieser Bedingungsanalyse wird klar, daß sich die Retardierungen nur durch einen Mehr-Ebenen-Ansatz erklären las­sen, in dem Strategien, metakognitive und selbstregulatorische Fertigkeiten, prinzipielle Basisfertigkeiten, bereichs­spezifisches Wissen und emotionale Be­setzung von Lernhandlungen wichtige Bestimmungselemente sind. Diese Mo­mente sind nicht unabhängig voneinan­der, sondern es bestehen wie gezeigt erhebliche Überschneidungen und wech­selseitige Abhängigkeiten. Die mehrdi­mensionalen Ursachen von Lernstörun­gen müssen sowohl für die Bestimmung der Interventionsziele als auch bei der Auswahl von Interventionsmaßnahmen systematisch beachtet werden(vgl. Lauth & Schlottke, 1988).

Ziel- und Förderkonzeption

Angesichts dieser dargestelltenStö­rungskonzeption* erweisen sich vor allem die nachstehenden Förderinhalte als entwicklungsrelevant:

® die Vermittlung einer verallgemeiner­baren Problemlösestrategie, wobei diese

Strategie beinhaltet, den Ausgangszu­stand eines Problems genau zu defi­nieren(Was ist meine Aufgabe?) und das Ziel der eigenen Tätigkeit zu be­stimmen. Weiterhin ist eine Planung an­zustellen, wie dieses Handlungsziel er­reicht werden kann(Wie gehe ich vor? Kenne ich etwas ähnliches?). Und letzt­lich ist dieser Plan bedacht und reflexiv umzusetzen. Diese Problemlösestrategie wird den Kindern anhand von Signal­karten verdeutlicht(s.u.) und im Ver­laufe des Förderprogrammes auf unter­schiedliche Anforderungen(Aufgaben) übertragen. Die Kinder sollen dadurch erfahren, daß die gleiche Problemlöse­strategie bei unterschiedlichen Aufga­ben angewandt werden kann; sie sollen ferner die Problemlösestrategie flexibel umsetzen.

Zur Abarbeitung eines derartigen Pro­zesses benötigt der Handelnde bereichs­spezifisches Wissen und metakognitive Fertigkeiten.

® Den Erwerb metakognitiver Vermitt­lungen(vgl. Wellman, 1983), die die Kinder einerseits zur Ableitung eines bedacht-planvollen Handelns und ande­rerseits zu einer zielbezogen-flexiblen Handlungsdurchführung befähigen. Wich­tige Momente hierbei sind zentrale Fra­gen, die das Kind bei der Handlungspla­nung und Handlungsdurchführung an sich selbst richtet sowie die Nutzung von Selbstverbalisierungen, mit denen es zunächst sein Handeln in schwierigen Situationen steuert. Dabei soll das Kind auch sogenanntes deklaratives Wissen (Wissen über die anstehenden kognitiven Aufgaben und förderlichen Herangehens­weisen Wellman, 1983) erwerben.

® erfolgsorientiertes Lernen, um einem eventuell bestehenden Meidungsverhal­ten bzw. einer Mißerfolgsängstlichkeit zu begegnen. Dies wird durch eine in ihrem Schwierigkeitsgehalt gestufte Aufgaben­auswahl, spezifische Hilfen, die das Kind vor und während seiner Aufgabenbear­beitung erhält, sowie durch hochstruk­turierte Lernsituationen ermöglicht.

® Ferner sollte das Kind lernen, nega­tive Emotionen(z.B. Frustration, Lan­geweile) durch geeignete Selbstanwei­sungen zu bewältigen. Hierzu wird ver­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991