Reimer Kornmann*
Veränderungen des Gegenstandsbezugs
wendet.) Die engere Fassung sieht den Begriff der Tätigkeit für das spezifisch menschliche Merkmal vor, Einfluß auf die eigenen Lebensverhältnisse und die Natur zu nehmen. Bei A.N. Leontjew (1973) deutet sich stellenweise eine Verbindung zwischen der engen und der weiten Fassung des Begriffs Tätigkeit an. Diese Verbindung hat dann Jantzen(1980) konsequent vollzogen und Grundzüge einer Theorie der Tätigkeitsentwicklung in der menschlichen Ontogenese skizziert. Auf diese Theorie greift Feuser (1984) bei seiner Konzeption einer nichtaussondernden Erziehung zurück, und sie liegt auch den nachfolgenden Überlegungen zugrunde.
Mit dem Begriff der Tätigkeit kann nun der ohnehin bestehende Bezug zwischen dem Subjekt und den Objekten— seien diese nun belebt oder unbelebt, konkret vorhanden oder abstrakt gedacht— in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses der Psychologie gerückt werden. Damit könnte diese Disziplin— so etwa Oerter(1982)— ihr scheinbar„naives vorwissenschaftliches Realitätsverständnis‘(S. 102) überwinden. Schon Graumann(1974) hat auf ein entsprechendes Defizit der Psychologie hingewiesen.
Sicher lassen sich einige Arbeitsrichtungen finden, in denen auch der Gegenstandsbezug thematisiert wird— hingewiesen sei etwa auf
— die denkpsychologischen und entwicklungspsychologischen Analysen von W. Köhler(1917), K. Bühler (1918), Ch. Bühler(1928) und K. Gottschaldt(1933)
— die Beschreibungen und Analysen kindlicher Spielformen und des Werkzeuggebrauchs durch Ch. Bühler(1928), Hetzer(1931) und Piaget (1969)
— die Arbeiten zur Entwicklung der Objektpermanenz, die von Piaget (1936) ausgingen und z.B. von Bower(1979) aufgegriffen wurden
— den kulturpsychologischen Ansatz
von Boesch(1982) und neuerdings — Arbeiten zur_Interessensbindung
(Eggers, 1984; Fink, 1989).
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Allerdings haben diese Ansätze mit Ausnahme der Arbeiten von Piaget im mainstream der westlichen Psychologie keine große Bedeutung erlangt. Im Rahmen der experimentell ausgerichteten angloamerikanischen Forschungstradition mit ihrem„neuen“ Interesse an„inneren“ Vorgängen dienen Objekte lediglich als prinzipiell austauschbare, unabhängige Variablen oder als exemplarisch gewählte Medien, um Aussagen über psychische Vorgänge als solche wissenschaftlich zu untermauern(so z.B. bei Case, 1985). Vom konkreten Gegenstandsbezug wird dabei abstrahiert auf Prozesse im Individuum.
Der Gegenstandsbezug im Rahmen tätigkeitstheoretischer Konzepte
Demgegenüber ist der Gegenstandsbezug für die Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule konstitutiv. Hier interessieren Voraussetzungen, Formen, Inhalte, Verläufe sowie Folgen von Tätigkeiten, wobei Subjekt und Objekt jeweils eine Komponente dieser AnalyseEinheit bilden. Die Nutzung dieses Ansatzes für eine praktische Entwicklungsdiagnostik liegt nahe. So beschreibt Jantzen(1980, 1987) in Anlehnung an Leontjew(1973) eine chronologische Abfolge dominierender Tätigkeiten, auf die sich auch Feuser(1984) und— in Ansätzen— Berger(1988) beziehen. Die Folge dieser Stufen lautet: 1. Wahrnehmungstätigkeit(auch sensorische oder perzeptive Tätigkeit), 2. manipulierende Tätigkeit, 3. gegenständliche Tätigkeit, 4. Spiel(symbolsiche Tätigkeit), 5. Lernen, 6. Arbeit(vgl. Jantzen, 1987, Ss. 199 f.).
Oerter(1988), der das Konzept der Abfolge der dominierenden Tätigkeiten nicht explizit anspricht, meint dennoch „daß der Aufbau und Wandel von Gegenstandsbezügen menschliche Entwicklung konkreter und objektiver beschreibbar macht“(S. 321). Er bezieht sich dabei vor allem auf Eva Schmidt-Kolmer (1984). Diese Autorin beschreibt und benennt zwar die einzelnen dominierenden Tätigkeitsformen, bringt sie aber
ebenfalls nicht in ein einheitliches Stufenkonzept. Stattdessen läßt sich ihrer Schrift entnehmen, daß— je nach Gegenstand— mehrere der dominierenden Tätigkeitsformen für den gleichen Entwicklungsabschnitt typisch sind: So kann ein Kind schon mit dem Löffel essen, diesen also im Sinne der gegenständlichen Tätigkeit verwenden, während es einen Bleistift noch in den Mund nimmt, auf ihn beißt, gegen andere Gegenstände schlägt, ihn aus der Hand fallen läßt, kurz: ihn ausschließlich im Sinn der manipulierenden Tätigkeit verwendet. Offensichtlich läßt die Feststellung eines bestimmten Tätigkeitsniveaus bei dem einen Objekt sich nicht unbedingt auf andere Objekte verallgemeinern. Dies wirft die Frage auf, ob dann das Konzept der Abfolge der dominierenden Tätigkeiten überhaupt einen heuristischen Wert hat. Eine erste, recht einfache Möglichkeit, diese Frage positiv zu beantworten, könnte darin bestehen, die Feststellung einer bestimmten Tätigkeitsform auf einzelne, jeweils identische Gegenstände beschränkt zu lassen, also nicht auf andere Objekte zu verallgemeinern. Stattdessen sollte mit einer solchen Feststellung lediglich die Vorhersage verbunden sein, daß— bezogen auf den gleichchen Gegenstand— bei günstigen Lernund Entwicklungsbedingungen und ausreichenden konkreten Erfahrungsmöglichkeiten die nächsthöhere Stufe des Tätigkeitsniveaus zu erwarten ist. Theoretisch dürfte eine solche gleichermaßen individuelle wie gegenstandsspezifische Vorhersage haltbar sein.
Jede Tätigkeitsstufe ermöglicht spezifische Erfahrungen. Diese eröffnen u.a. den Zugang zu anderen Objekten auf gleichen oder anderen Tätigkeitsstufen und— vor allem— das Erreichen der nächsthöheren Tätigkeitsstufe bei dem gleichen Objekt. Der damit einhergehende Erfahrungsgewinn ist jeweils an bestimmte biologische und soziale Voraussetzungen gebunden. Sind diese eingeschränkt oder gar nicht vorhanden, kommt es zu Behinderungen der Entwicklung. Ihre Formen und Schweregrade hängen von Art und Ausmaß der biologischen und sozialen Defizite ab.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991