Reimer Kornmann
Veränderungen des Gegenstandsbezugs
Der Sinn dieser Tätigkeitsformen kann darin gesehen werden, daß die Kinder spielend lernen, zwischen zwei Formen der Realität zu unterscheiden: einer konkreten, in welcher die Tätigkeiten erfahrbare Konsequenzen haben, und einer imaginierten, in welcher die Handlungen„durchgespielt‘‘ werden können. Auf diese Weise erwerben die Kinder ein autonomes System zur Planung und Kontrolle eigener Handlungen— also das, was in der neueren kognitiv orientierten Literatur als„Meta-Fähigkeiten“‘ und in der tätigkeitstheoretischen Literatur als bewußtseinsfähige und bewußtseinspflichtige„Vergleichs-Veränderungs-Rückkopplungseinheiten“(z.B. Hacker, 1973) bezeichnet wird. Dieses System ist entscheidend für erfolgreiche Tätigkeiten auf dem nächst höheren Niveau, dem der Lerntätigkeit.
5. Wesentliches Merkmal der Lerntätigkeit(vgl. Tab. 5) ist der Erwerb der Schriftsprache und der Arithmetik sowie deren realitätsgerechte Anwendung, damit auch solche Bereiche der Wirklichkeit erschlossen werden können, die nicht
unmittelbar und konkret erfahrbar sind. Diese Tätigkeitsform dient der Vorbereitung auf die nächst höhere Stufe, die der Arbeit, auf die im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr eingegangen wird.
Konsequenzen für die praktische Entwicklungsdiagnostik in natürlichen Situationen
Auf der Grundlage der hier skizzierten Veränderungsreihe der verschiedenen Niveaustufen objektbezogener Verhaltensweisen lassen sich für die zu beobachtenden Kinder relativ einfach Kategorien gewinnen, die wesentliche Aspekte ihres aktuellen Entwicklungsstandes realitäts- und situationsangemessen beschreiben.
Zunächst werden für eine bestimmte Beobachtungseinheit alle Objekte registriert, mit denen das jeweilige Kind agiert. Daneben wird festgehalten, auf welcher Niveaustufe diese Tätigkeit abläuft. Über mehrere Beobachtungszeiträume hinweg liefern solche Protokolle
brauchbare Informationen. Insbesondere
zeigen sich hierin mögliche Anlässe zu
Interventionen, nämlich dann, wenn
1. die Zahl der Objekte, mit denen sich das Kind beschäftigt, relativ klein ist und nicht größer wird,
2. wenn das Tätigkeitsniveau bezüglich des Umgangs mit bestimmten Objekten sich nicht in erwünschter Richtung verändert.
Anhand der gleichen Kategorien läßt
sich dann auch der Erfolg der Interven
tionsmaßnahmen kontrollieren. Ein solcher diagnostischer Anwendungsbezug zur Indikation und Kontrolle individualisierender Fördermaßnahmen schöpft jedoch die gesamte Theorie von der Abfolge der dominierenden Tätigkeiten bei weitem nicht aus, berücksichtigt er doch zunächst nur solche Kategorien, die sich für die Perspektive des
„äußeren Beobachters‘“ eignen.Diese ver
weisen aber, wie auch im Text angedeu
tet wurde, auf die Bedeutungsgehalte der jeweiligen Tätigkeiten aus der Sicht des beobachteten Individuums(vgl. hier
zu Oerter, 1983; Jantzen, 1987).
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