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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Buchbesprechungen

klinik(Berlin) über die Zwangssterilisie­rung von über 2000 Patienten(der Witte­nauer Heilstätten) und deren Deportation in dieTötungsanstalt Obrawalde. Dieter Gers unternimmt am Beispiel Hilfsschule innerhalb derSonderpäd­agogik im Faschismus denVersuch, die Entwicklung der Behindertenpolitik in ihrer Abhängigkeit von den ökonomi­schen und politischen Veränderungen aufzuzeigen,Die Behindertenpolitik im Faschismus ist als terroristische Zu­spitzung der Idee, Tendenzen und Vor­stellungen zu sehen, die in der Zeit vor­her entstanden sind und erst im faschi­stischen Deutschland verwirklicht wer­den konnten.

Claudia Reuter informiert über die Ein­richtung vonSammelklassen und-hor­ten(in Groß-Berlin) für geistig behin­derte Kinder in der Hilfsschule. Diese Eirnichtungen wurden 1933 zunächst aufgelöst, und 1938 heißt es in derAll­gemeinen Anordnung über die Hilfsschu­len in Preußen, daß ‚,‚Sammelklassen für bildungsfähige Kinder an Hilfsschulen nicht mehr eingerichtet werden dürfen. Andreas Schwerkolt spricht speziell über dieSchwerhörigenpädagogik im Natio­nalsozialismus(19331945) und schil­dert die Angst der erblich Schwerhörigen und die Pressionen, denen sie ausgesetzt waren.

In gleicher Weise spricht Horst Biesold über dieAusgrenzung Taubstummer im Nationalsozialismus anhand der aus­führlichen Schilderung einer zwangsste­rilisierten(schwangeren) Frau.

In dem Referat von Gabriele Richter überBlindheit und Eugenik Zwischen Widerstand und Integration wird aufge­zeigt, welchem psychischen Druck auch die Blinden(vor allem jüdische) im Drit­ten Reich ausgesetzt waren, und daß von etwa 2400 bis 2800 Blinden jeder 12. bis 14. unfruchtbar gemacht wurde. Udo Sierck berichtet über ‚Die Ge­schichte der Körperbehinderten-Organi­sation im Dritten Reich. 1931 entstand derReichsbund der Körperbehinder­ten, der sich zunächst gegendominie­rende Wertungen und Abqualifizierun­gen wehren mußte, dann aber schon 1935 das Zwangssterilisierungsgesetz an­erkennen mußte,weil damit ein Tren­nungsstrich zwischen ‚Erbkranken und ‚Vom-Schicksal-Betroffenen gezogen sei. Durch das(von der evangelischen In­neren Mission übernommene) Leitmotiv Arbeit statt Almosen wurden viele Kör­

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perbehinderte zur Arbeit in gesonderten Werkstätten gezwungen. Mit Kriegsbe­ginn wurde das Leistungsprinzip in den Werkstätten verschärft. Ab 1944 muß­ten die Körperbehinderten mit auslän­dischen Zwangsarbeitern zusammen ar­beiten. Das gemeinsame Schicksal band die Blinden und diese Arbeiter zusam­men.

Hanspeter Berner schildert dieSonder­pädagogische Geschichtsschreibung nach 1945, die imverdrängen, verschweigen, verfälschen besteht.Bis in die jüngste Zeit wird in historischen Arbeiten der Sonderpädagogik die Zeit des Faschis­mus weitgehend oder total ausgeklam­mert, z.B. bei Lesemann(1966), Klink (1966), Stadler(1976); Grosse(1967) erklärt(sogar) pauschal die in der NSDAP organisierten Hilfsschullehrer zu Widerstandskämpfern.... Lesemann waraktiver und engagierter Rasssen­hygieniker(seit 1929). Er befürwortete Maßnahmen wie die Asylierung und Ste­rilisierung, ebenso wie sich bei ihm auch rassistische(1929) und antisemitische Elemente finden. Aufgrund dieser Tat­sachen wurde dann auch eine nach Lese­mann(1979) benannte Sonderschule in Dortmund umbenannt. Sie heißt heute Minister-Stein-Schule(zur Erinnerung an eine stillgelegte Zeche).

1986 hat der ehemalige Bundestagsab­geordnete Hans-Christian Ströbele im Bundestag einen Vortrag mit dem Titel Aktueller Stand der Wiedergutma­chungs-Diskussion gehalten. Er stellte fest, daß esunerträglich sei, wenn es heute, über 40 Jahre nach Kriegsende, immer noch von den Nationalsozialisten verfolgte Menschen gibt, die materiell ungesichert sind und unter menschenun­würdigen Verhältnissen leben müssen. Deshalb hättendie Grünen mehrere Gesetzesinitiativen ergriffen, um diesen Menschen(vor allem den Sterilisierten) zu helfen.

Die meisten Referate enthalten Hinweise zur Literatur; am Schluß findet sich ein ausführliches Literaturverzeichnis.

Das Buch sollte von vielen Heil- und Son­derpädagogen gelesen werden, um einem Verdrängen und Vergessen der schreckli­chen Greueltaten an behinderten Men­schen vorzubeugen. Nicht zuletzt ist des­halb auch diese Buchbesprechung etwas ausführlicher geworden.

Prof. Dr. Richard G.E. Müller, Glinde

Vogel, Berndt: Lebensraum: Musik. Band 10 der ReihePraxis der Musiktherapie (hrsg. von Volker Boley und Volker Bernius). 124 Seiten mit 16 Abbildun­gen. 1991. DM 32,. Gustav Fischer Verlag(Auslieferung) Stuttgart/Jena/ New York und Bärenreiter Verlag Kas­sel/Basel, London.

Nach K.H. Rollwage(Enzyklopädisches Handbuch der Sonderpädagogik, Band 2, Seite 2217, Verlag Marhold, Berlin 1969) ist ‚Musiktherapie einbesonders in Schweden verbreitetes Verfahren, seeli­sche Störungen durch Einzel-, selten auch durch Gruppenbehandlung unter Zuhilfenahme von auditiv und gleich­zeitig vibratorisch verabreichter Musik zu bessern. Beim Musikhörer erfolgt eineAngleichung des eigenen Gefühls­zustandes an die Gefühlsqualität der ge­hörten Musik(A. PontvikHeilen durch Musik*, 1955).

Die vorliegende Veröffentlichung setzt sichkritisch auseinander mit denLe­bensbedingungen Schwerst- und Mehr­fachbehinderter, sowie mit den Arbeits­bedingungen der Therapeuten, und stellt die Frage,welche Formen der Musiktherapie geeignet sind, um einen direkten Zugang zu den emotionalen Be­reichen und der Erfahrungswelt Behin­derter zu erlangen.

Teil 1 des Buches(Grundsätzliche Über­legungen) beinhaltet folgende Unterthe­men: Rehabilitation und Rehabilitierung Erster Versuch einer Personenbeschrei­bung anhand von Diagnosen(vornehm­lich cerebrale Bewegungsstörungen, An­fallsleiden und-paresen, Meningitiden und Encephalitiden bei Schwerst- und Mehrfachbehinderten) Zweiter Versuch einer Personenbeschreibung anhand der Six res non naturales* der antiken Diä­tetik; damit sind die Grundbereiche menschlichen Lebens gemeint: die Be­deutung von Licht und Luft, der Um­gang mit Speise und Trank, das Wech­selspiel von Bewegung und Ruhe, der Rhythmus von Schlafen und Wachen, die Ausscheidungen und Absonderungen des Körpers und das Gleichgewicht der Seele Das soziale Umfeld großer Behin­derteneinrichtungen Die professionel­len Helfer(die Frage nach dem Mitarbei­terstab) Zur Wohnsituation Schwerst­und Mehrfachbehinderter.

Teil 2 des Buches(Musiktherapie bei Schwerst- und Mehrfachbehinderten) spricht über Rahmenbedingungen, die

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVII, Heft 4, 1991