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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Marcus Hasselhorn& Claudia Mähler*

Lernkompetenzförderung beilernbehinderten Kindern

Lernbehinderung hat sich erst nach dem zweiten Weltkrieg konstituiert. Vorher unterschied man lediglich zwischen nor­malen und geistig behinderten Kindern (vgl. Lerner, 1971). Nach Cooney& Swanson(1987) hat sich eine experi­mentelle Lernbehinderten-Forschung so­gar erst in den 70er Jahren durchsetzen können. Trotz der vergleichsweise kur­zen Forschungsgeschichte wurden in den vergangenen fünf Jahrzehnten be­reits viele wissenschaftliche Modelle zur Erklärung und Beschreibung von Lern­behinderung erstellt. Die vorliegenden Ansätze lassen sich zum Teil übergeord­neten Modellen zuordnen, die zumin­dest zeitweise so konsensfähig unter Wissenschaftlern waren, daß sie sich als Lehrmeinungen etablieren konnten. Drei der wichtigsten übergeordneten Modelle waren bzw. sind:(a) Neurophy­siologische Modelle, bei denen patholo­gische Strukturen im zentralen Nerven­system(ZNS) als Ursache von Lernbe­hinderung postuliert wurden,(b) Ent­wicklungsverzögerungs-Modelle, die im wesentlichen dieUnreife einer oder mehrerer ZNS-Komponenten bei Lern­behinderten betonten und(c) Informa­tionsverarbeitungs-Modelle, auf deren Grundlage Lernbehinderung zunächst als Folge struktureller Gedächtnisdefizi­te, später als Konsequenz defizitärer Verarbeitungsprozesse betrachtet wurde (vgl. Hagen, Barclay& Schwethelm, 1982).

Neurophysiologische Modelle. Eines der ersten Modelle dieser Art ist unter dem Begriff derminimalen Hirnschädigung von Strauss& Werner(1942) eingeführt worden. Hier werden Schädigungen des ZNS und damit einhergehende perzep­tuomotorische Defizite als Ursache von Lernbehinderung betont. In weiteren Varianten werden als ätiologische Fak­toren der Lernbehinderung z.B. Mangel­ernährung in prä- und postnatalen Ent­wicklungsstadien oder genetisch-konsti­tutionelle Faktoren genannt. Bis Ende der 60er Jahre haben Vertreter neuro­physiologisch orientierter Defizit-Model­le das Forschungsfeld und die wissen­schaftlichen Lehrmeinungen über Lern­behinderung dominiert. Einen guten Überblick hierzu findet man in dem

Lehrbuch von Hallahan& Cruickshank (1979). Entwicklungsverzögerungs-Modelle. Die für den neurophysiologischen Ansatz ty­pische Defizit-Sichtweise wurde gegen Ende der 60er Jahre in zunehmendem Maße von Entwicklungstheoretikern in Frage gestellt. Diese Kritiker betonten die Entwicklungsdynamik bei lernbehin­derten Kindern und nahmen an, daß ei­ne verlangsamte Entwicklung spezifi­scher, für die Lernfähigkeit relevanter Komponenten zu den beobachtbaren Lernstörungen führt. Seit Mitte der 60er Jahre sind verschiedene Entwicklungs­verzögerungs-Modelle vorgelegt worden. Darin werden vor allem Annahmen über dieUnreife verschiedener Komponen­ten des ZNS(z.B. Gallagher, 1966; Kins­bourne, 1973) oder über eine verzögerte Reifung der linken Hirnhälfte(z.B. Satz & Van Nostrand, 1973) gemacht. Im Vergleich zu den neurophysiologischen Defizit-Modellen haben die Entwick­lungsverzögerungs-Modelle einen eher bescheidenen Raum in der Literatur ein­genommen. Ihr indirekter Einfluß auf gegenwärtige Lehrmeinungen ist jedoch hoch zu veranschlagen, wie aus der Lek­türe neuerer Sammelbände über Lernbe­hinderung hervorgeht(vgl. Ceci, 1986, 1987; Swanson, 1987; Torgesen& Wong, 1986). Informationsverarbeitungs-Modelle. Auch die seit Anfang der 70er Jahre in zunehmendem Maße die Lehrmeinungen prägenden Informationsverarbeitungs­Ansätze zur Erklärung von Lernbehinde­rung charakterisieren diese meist als Entwicklungsrückstand. Typische Infor­mationsverarbeitungs-Modelle unter­scheiden zwischen strukturellen Merk­malen des Gedächtnisses(z.B. Gedächt­nisspeicher) und Prozessen der Informa­tionsverarbeitung, die für den Informa­tionsaustausch zwischen verschiedenen Strukturen verantwortlich sind(siehe im einzelnen unten). Frühe Varianten dieses Ansatzes machten ausschließlich struk­turelle Defizite des Informationsverar­beitungssystems für Lernbehinderungen verantwortlich, weshalb sie kaum von den neurophysiologischen Defizit-Model­len zu unterscheiden sind. Der Durch­bruch gelang diesem Ansatz mit der The­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990

se, daß defizitäre Verarbeitungsprozesse für Lernbehinderte charakteristisch sind (z.B. Ellis, 1970).

Spätestens seit Ende der 70er Jahre nimmt der prozeßorientierte Informa­tionsversarbeitungs-Ansatz die führende Rolle unter den wissenschaftlichen Lehr­meinungen ein. In den vergangenen 15 Jahren wurden viele empirische Ar­beiten vorgelegt, deren Ergebnisse dafür sprechen, daß die prävalenten Defizite lernschwacher Schüler in folgenden vier Bereichen liegen(vgl. Hasselhorn, 1987a):(a) in der spontanen Produk­tion strategischer Gedächtnisaktivitäten, (b) in der flexiblen und reflexiven Lern­überwachung und-regulation,(c) im Wissen über die Möglichkeiten und Gren­zen des eigenen Gedächtnisses und(d) in der Grundgeschwindigkeit, mit der Informationsverarbeitungsprozesse ab­laufen(funktionaler Aspekt der Verar­beitungskapazität).

Der Informationsverarbeitungs­Ansatz eröffnet neue Förderperspektiven

Es liegt auf der Hand, daß wissenschaft­liche Lehrmeinungen nicht nur offiziel­le Definitionen von Lernbehinderung prägen, sondern auch gewichtige Impli­kationen für die Entwicklung geeigneter Förderprogramme haben. So wurden auf der Grundlage der neurophysiolo­gisch orientierten Defizit-Modelle per­zeptuomotorische Trainings als sonder­pädagogische Maßnahme zum Abbau von Lernbehinderung empfohlen, da man eine angemessene motorische und perzeptuelle Entwicklung für eine not­wendige Voraussetzung einer unauffäl­ligen kognitiven Entwicklung hielt. Die­se Trainings haben sich entgegen der po­sitiven Einschätzung von Hallahan& Cruickshank(1979) als ineffektiv im Hinblick auf die Verbesserung der Lern­kompetenz erwiesen(vgl. Belmont, 1980, 5. 256f.).

Die pädagogischen Perspektiven der Ent­wicklungsverzögerungs-Modelle sind nicht leicht auszumachen. Sieht man von eher informationsverarbeitungstheo­