Marcus Hasselhorn& Claudia Mähler
Lernkompetenzförderung bei„lernbehinderten‘ Kindern
retischen Entwicklungsverzögerungs-Ansätzen ab ‚wie z.B. dem von Ross(1981), in dem eine verlangsamte Entwicklung der selektiven Aufmerksamkeit als Ursache von Lernbehinderung gesehen wird und in dem die typischen Trainingsempfehlungen der Informationsverarbeitungs-Modelle abgegeben werden, so zeichnet sich für die Entwicklungsverzögerungsmodelle die Gefahr einer zu passiven pädagogischen Haltung ab: Wenn die Schwierigkeiten des Kindes nur Ausdruck einer spezifischen Entwicklungsverzögerung seien, dann ginge es in erster Linie darum, durch geduldiges Beobachten das tatsächliche Entwicklungstempo des Kindes festzustellen und anschließend geeignete Stützmaßnahmen zur Verhinderung weiterer Entwicklungsretardierungen vorzunehmen. Welche das im einzelnen sind und wie lange man zunächst„untätig‘‘ beobachten soll, wird jedoch kaum konkretisiert.
Klare Förderperspektiven haben sich dagegen aus den Informationsverarbeitungs-Modellen ergeben, so daß in den 70er Jahren die Trainierbarkeit von Lernfertigkeiten und-fähigkeiten Gegenstand eines breit angelegten eigenständigen Forschungsfeldes wurde. Bevor wir einen Überblick über einige Schlußfolgerungen aus dieser Trainingsforschung geben, sollen zum besseren Verständnis der Informationsverarbeitungs-Ansätze ihre theoretischen Grundlagen und anschließend die besondere Bedeutung metakognitiver Aspekte aufgezeigt werden.
Grundvorstellungen der Informationsverarbeitungs-Modelle
Modelle der Informationsverarbeitung betrachten den menschlichen Organismus als ein Verarbeitungssystem, in dem sensorisch wahrgenommene Informationen verschiedenen Transformationen oder Operationen unterworfen werden, bevor sie dauerhaft im Gedächtnis verfügbar sind. Wie bereits erwähnt, unterscheiden Informationsverarbeitungs-Modelle zwischen strukturellen Merkmalen und Kontrollprozessen dieses Verarbeitungssystems. In einem der bekannte
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sten frühen Modelle beschreiben Atkinson und Shiffrin(1968) verschiedene strukturelle bzw. permanente Merkmale:(a) die sensorischen Register, in die die von den Sinnesrezeptoren aufgenommene Information eingeht;(b) der Kurzzeitspeicher(KZS), der eine begrenzte Kapazität hat und Informationen für vergleichsweise kurze Zeit präsent hält; und(c) der Langzeitspeicher(LZS), der von praktisch unbegrenzter Kapazität ist und Informationen überdauernd verfügbar hält. Diesen strukturellen Merkmalen stellten Atkinson& Shiffrin(1968) Kontrollprozesse gegenüber, die als zeitlich vorübergehende Phänomene der Aufrechterhaltung des Informationsflusses im Verarbeitungssystem dienen und häufig von der informationsverarbeitenden Person bewußt eingesetzt werden. Als Beispiel für einen Kontrollprozeß nennen Atkinson& Shiffrin (1968) das Memorieren(‚rehearsal‘“) im Sinne eines inneren Repetierens der Information. Es soll dazu dienen, die Information länger im KZS präsent zu halten, damit sie im Zugriffsbereich für weitere Transformationen bleibt. Kritiker der InformationsverarbeitungsModelle haben des öfteren zu bedenken gegeben, daß diese simplen Strukturund Prozeßannahmen zu undifferenziert seien, um der(zumindest physiologischen) Komplexität des menschlichen „Kognitiven Systems‘ gerecht zu werden. Solche Kritik scheint einem falschen Verständnis der psychologischen Modell-Bildung zu entspringen. Mit derartigen Modellen wollen Wissenschaftler nicht etwa ein getreues Abbild der Realität geben, sondern lediglich solche Realitätsmerkmale repräsentieren, die für das Verständnis einer definierten Klasse von Phänomenen notwendig sind. Bewertungsmaßstab für die Modelle ist daher nur ihre Nützlichkeit für die Beschreibung und Erklärung der fokussierten Phänomenklasse.
Die Mehrzahl der gegenwärtig in der Lernbehinderten-Forschung diskutierten Informationsverarbeitungs-Modelle können als Modifikationen bzw. Weiterentwicklungen des skizzierten Modells von Atkinson& Shiffrin(1968) beschrieben werden. So findet man sehr detaillierte
Elaborationen zu Teilprozessen der Informationsverarbeitung(z.B. Mosley, 1987). In anderen Arbeiten wird die strikte Trennung zwischen KZS und LZS aufgegeben, indem der KZS als aktivierter LZS-Bereich etwa über das Konzept des Arbeitsgedächtnisses beschrieben wird(z.B. Torgesen, Kistner& Morgan, 1987). Wieder andere Ansätze relativieren die Trennung zwischen strukturellen und prozessualen Merkmalen der Informationsverarbeitung(z.B. Baker, Ceci& Herrmann, 1987), oder ersetzen traditionell strukturelle Konzepte durch dynamisch-prozessuale Modelle(z.B. Brewer, 1987; Cermak& Miliotis, 1987). Von entscheidender Bedeutung für die Frage nach möglichen pädagogischen Maßnahmen zum Abbau von Lernschwächen hat sich eine Modellerweiterung erwiesen, in der den Informationsverarbeitungs-Prozessen eine höhere Ebene von Prozessen zugeordnet wird, deren Aufgabe die Überwachung und Steuerung der kognitiven Verarbeitung ist. Diese übergeordneten Prozesse sowie das Wissen über die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Informationsverarbeitungs-Systems werden als Metakognitionen bezeichnet. In vielen neueren Ansätzen der Lernbehinderten-Forschung kommt ihnen eine zentrale Bedeutung zu(z.B. Bauer, 1987; Borkowski, Johnson& Reid, 1986; Wong, 1987).
Die Bedeutung von Metakognitionen
Die ersten theoretischen Annahmen über Metakognitionen sind.in den 70er Jahren in der kognitiven Entwicklungspsychologie unter dem Begriff„Metagedächtnis‘“ ausgearbeitet worden(vgl. Flavell& Wellman, 1977). Diesem Konzept ordnet man zwei verschiedene Aspekte zu: zum einen das Wissen von Personen über ihre eigenen kognitiven Prozesse bzw. Produkte und deren Abhängigkeit von verschiedenen Einflußfaktoren; zum anderen übergeordnete Kontrollprozesse, die der Planung, Überwachung, Koordination und Steuerung der Informationsverarbeitung dienen. Die ontogenetisch späte Entwicklung
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990