Marcus Hasselhorn& Claudia Mähler*
Lernkompetenzförderung bei„lernbehinderten‘“ Kindern
Beispiel 1: Das„Reciprocal-Teaching“ von Brown und Palincsar
Mit ihrem„Reciprocal-Teaching‘-Ansatz haben Brown und Palincsar(1987; im Druck; Palincsar& Brown, 1984) ein Förderprogramm für Schulkinder und Jugendliche vorgelegt, das auf wechselseitigen Lehr-Lern-Schritten basiert. Anspruch dieses Programms ist es, Kompetenzen aufzubauen, die zum aktiven selbständigen Lernen ‚Denken und Verstehen befähigen.
Theoretischer Hintergrund
Das„Reciprocal Teaching“(RT) ist mittlerweile in mehr als einem Dutzend Veröffentlichungen der Arbeitsgruppe um Ann Brown an der Universität Illinois mit immer wieder anderen Schwerpunkten dargestellt worden. Folgende vier lern-, entwicklungs- und instruktionspsychologischen Konzepte kristallisieren sich dabei als Eckpfeiler des theoretischen Hintergrundes heraus: das Konzept der exekutiven Metakognitionen, das Konzept der Zone der nächsten Entwicklung, das Konzept der Anleitung durch Experten(„expert scaffolding“) sowie das des entdeckenden Lernens.
Exekutive Metakognitionen. Dieses Konzept beinhaltet Prozesse und Aktivitäten, mit denen eine kompetent lernende Person die eigenen Lernprozesse überwacht, steuert, koordiniert und bewertet. Unter der Voraussetzung, daß jemand über basale Lern- und Behaltenstechniken verfügt, kann er durch den gezielten Einsatz exekutiver Metakognitionen sein Lernen optimieren. Nach Brown(1978, S. 82) äußern sich exekutive metakognitive Kompetenzen(a) in Analyseprozessen zur Identifizierung der Anforderungen und Ziele einer Lernaufgabe,(b) in Planungsprozessen, bei denen etwa über den Einsatz einer bestimmten Behaltensstrategie entschieden wird,(c) in Überwachungsprozessen, die während des Strategieeinsatzes deren Ausführung und Effektivität kontrollie
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ren und(d) in Bewertungsprozessen, in denen das Ergebnis des Lernprozesses beurteilt und— bei unbefriedigendem Lernerfolg— die Planung erneuter Lernaktivitäten initiiert wird. Brown& Palincsar gehen von der These aus, daß sich weitreichende Lernkompetenzen durch ein Förderprogramm aufbauen lassen, in dem grundlegende Lerntechniken und übergeordnete exekutive Metakognitionen gemeinsam vermittelt werden.
Zone der nächsten Entwicklung. Das Konzept der„Zone der nächsten Entwicklung‘“ wurde bereits in den 20er und 30er Jahren von dem Sowjetrussen Vygotsky(1978, Original 1935) entwikkelt. Ausgehend von dem schon im 17. Jahrhundert von Comenius formulierten Prinzip der Passung, nach dem Lerninhalte und-methoden dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes entsprechen sollten, führte er die Unterscheidung zwischen dem aktuellen und dem potentiellen Entwicklungsniveau ein. Während ersteres durch die gegenwärtig vom Kind selbständig lösbaren Lernaufgaben charakterisiert ist, bezieht sich letzteres auf den maximalen Schwierigkeitsgrad von Aufgaben, die es unter geeigneter Anleitung bewältigen kann. Die Distanz zwischen aktuellem und potentiellem Entwicklungsniveau bestimmt die Zone der nächsten Entwicklung. Vygotsky(1978) betont die besondere Bedeutung sozialer Interaktionen für die Herausbildung individueller Zonen der nächsten Entwicklung(und somit für das kognitive Entwicklungstempo eines Kindes überhaupt).
Die Vygotskyschen Überlegungen ließen Brown& Palincsar(1987, im Druck) ihre zentrale instruktionstheoretische Frage folgendermaßen formulieren: Wie sind sozialinteraktive Lehr-Lern-Situationen zu gestalten, damit sie die maximale Zone der nächsten Entwicklung beim Kind aktivieren und die neu hervorgerufenen Prozesse so internalisiert werden, daß sie ein Teil des aktuellen Entwicklungsniveaus und somit Sprungbrett für die weitere Entwicklung der Lernfähigkeiten werden? Diese Frage versuchen Brown& Palincsar(1987, im Druck) mit Hilfe der theoretischen Kon
zepte der Anleitung durch Experten („expert scaffolding‘“) und des entdekkenden Lernens zu beantworten. Anleitung durch Experten(„expert scaffolding‘“). Hierbei greifen Brown& Palincsar einen Gedanken von Bruner& Wood(z.B. Wood, Bruner& Ross, 1976) auf, nach dem besonders günstige Lernsituationen dadurch charakterisiert sind, daß ein Experte einen unterstützenden Kontext realisiert, in dem die zu trainierende Person schrittweise die relevanten Fertigkeiten erwerben kann. Der Experte demonstriert und erklärt dabei die zu bearbeitenden Lernaufgaben nur so weit, wie der Trainingsteilnehmer es gerade verstehen und bewältigen kann. Je mehr die Kompetenzen der zu trainierenden Person zunehmen, desto größer werden auch die Anforderungen, die ihr der Experte in der Lernsituation zumutet. Experten müssen keineswegs professionelle Lehrer sein, die über didaktische und instruktionspsychologische Kenntnisse verfügen. Der Experte muß lediglich Erfahrung im optimalen Bearbeiten der im Training fokussierten Aufgabenanforderungen haben.
Entdeckendes Lernen. Das theoretische Konzept des entdeckenden Lernens— von Brown& Palincsar(im Druck) auch etwas prosaisch als„Sokratischer Dialog‘ bezeichnet— ist eng verwandt mit dem oben skizzierten„expert scaffolding“. Etwas vereinfacht läßt es sich als didaktisch ausgearbeitete Gruppenvariante der Anleitung durch Experten begreifen. Beim entdeckenden Lernen wird vom Schüler verlangt, daß er Konzepte, Prinzipien und Lösungswege selbständig ausfindig macht und dabei vom Lehrer— meist im Rahmen eines Dialoges oder einer Diskussion— lediglich Hilfestellungen bekommt. Brown& Palincsar(im Druck) sind sich durchaus der Kritik an den Methoden des entdekkenden Lernens bewußt, wonach die Transferwirkungen dieses Lehrstils zu gering ausfallen, um die aufgrund der ausführlichen Diskussionen notwendige Einschränkung des Lehrstoffs zu rechtfertigen. Da jedoch ihr primäres Trainingsziel nicht der Aufbau breiter Wissensinhalte, sondern die Verbesserung allgemeiner Lern-, Denk- und Verste
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990