Marcus Hasselhorn& Claudia Mähler*
Lernkompetenzförderung bei„„lernbehinderten‘ Kindern
hensfertigkeiten darstellt, sehen sie keinen Anlaß dafür, ihr Programm auf andere instruktionstheoretische Ansätze aufzubauen.
Praktische Vorgehensweise
Das Reciprocal-Teaching(RT) ist ursprünglich zum Aufbau von Textlernkompetenzen entwickelt und evaluiert worden(vgl. Palincsar& Brown, 1984), mittlerweile aber auch auf die Bereiche des mathematischen Denkens im Grundschulalter und des Verstehens akustischer Information bei Schulanfängern übertragen worden(vgl. Brown& Palincsar, 1987). Die folgende Beschreibung der praktischen Vorgehensweise des RT orientiert sich an der bisher am ausführlichsten ausgearbeiteten Textlernversion.
Ziel dieser RT-Version ist die Förderung des Leseverständnisses und der selbständigen Verstehenskontrolle. Um dies zu erreichen, wurden vier konkrete strategische Aktivitäten für das Training ausgewählt:(1) das Zusammenfassen wesentlicher Inhalte,(2) das Formulieren verstehensbezogener Fragen an den Text, (3) die Vorhersage weiterer Textinhalte und(4) das Klären von Mehrdeutigkeiten. Diese vier Strategien werden in einer Art„Sokratischem Dialog‘(s.o.) vermittelt, in dem folgende Instruktionsprinzipien realisiert wurden:(a) der Trainer demonstriert die jeweiligen Verstehensaktivitäten und bemüht sich um eine möglichst klare und konkrete Darlegung der zugrundeliegenden Prozesse; (b) diese Modellierung der relevanten Aktivitäten erfolgt nicht isoliert, sondern in möglichst angemessenen Kontexten;(c) die Trainingsteilnehmer werden ausführlich über die Notwendigkeit, die Möglichkeiten und die Grenzen jeder Strategie informiert;(d) dabei soll ihnen der persönliche Nutzen deutlich gemacht werden(„das funktioniert ja auch bei mir!‘“);(e) die Eigenverantwortlichkeit für die Ausführung der trainierten Aktivitäten soll so bald wie möglich von den Trainingsteilnehmern selbst übernommen werden;(f) die Verantwortlichkeitsübernahme erfolgt schritt
weise; und(g) die Rückmeldungen des Trainers sind jeweils dem aktuellen Kompetenzniveau des Trainingsteilnehmers angepaßt, so daß dieser zu weiteren Schritten des Kompetenzaufbaus ermutigt wird. Das RT-Programm umfaßt ca. 20 Trainingssitzungen von etwa 25 Minuten Dauer. Je nach Retardierungsgrad der Teilnehmer sind mehr oder weniger Sitzungen erforderlich. Das Trainingsmaterial besteht aus einer Sammlung von über 100 Textabschnitten im Umfang von etwa 400 Wörtern.
Zu Beginn des RT werden die Trainingsteilnehmer über die vier Verstehensaktivitäten(Zusammenfassen, Fragen formulieren, Mehrdeutigkeiten klären, Vorhersagen machen) informiert. In den einzelnen Trainingssitzungen kommunizieren Trainer und Teilnehmer im Rahmen eines interaktiven Lernspiels, bei dem unter wechselnder Dialogführung die Inhalte immer wieder neuer Textabschnitte erschlossen werden. Z.B. lenkt der Trainer bei einem neuen Abschnitt die Aufmerksamkeit des Teilnehmers auf die Überschrift, fragt nach seinen Erwartungen(Vorhersagen) hinsichtlich des Inhaltes des Abschnittes und diskutiert schließlich mögliche Verknüpfungen zwischen Textinhalt und Vorkenntnissen des Teilnehmers. In einem nächsten Schritt wählt der Trainer einen spezifischen Textabschnitt aus und gibt entweder an, zur Erarbeitung dieses Paragraphen selbst der Lehrer zu sein, oder fordert den Trainingsteilnehmer dazu auf, die Rolle des Lehrers zu übernehmen. Trainer und Teilnehmer lesen daraufhin den Paragraphen still für sich, und der für diese Spielrunde festgelegte Lehrer(Trainer oder Teilnehmer) beginnt damit, eine Frage zum Inhalt zu formulieren, den Paragraphen zusammenzufassen, eine Vorhersage zum weiteren Verlauf des Textinhaltes anzubieten und gegebenenfalls Mehrdeutigkeiten zu klären.
Übernimmt der Teilnehmer die Lehrerrolle, so erhält er vom Trainer die notwendigen Hilfen. Als Techniken benutzt dieser dabei Anregungen(‚Was meinst du, was für eine Frage würde ein Lehrer stellen?‘), Unterweisungen(„Denk daran,eine Zusammenfassung ist cine Kurz
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990
version; sie enthält keine Details!‘‘) und Verhaltensmodifikationen(‚‚Wenn es dir so schwerfällt, eine Frage zu formulieren, warum versuchst du es dann nicht erst mit der Zusammenfassung?‘“). Außerdem wird darauf geachtet, auf alle
Aktivitäten des Teilnehmers kommen
tierend, wenn möglich lobend, einzugehen(„Das ist eine hervorragende Vorhersage, mal sehen, ob sie richtig ist“). Während des Trainings wird den Teilnehmern immer wieder explizit mitgeteilt, daß es sich bei den eingeübten Aktivitäten um allgemeine Strategien handelt, die ihnen helfen sollen, Texte besser zu verstehen. Auch weist der Trainer wiederholt darauf hin, daß die eingeübten Aktivitäten hervorragend geeignet seien, das eigene Textverständnis zu überprüfen.
Bisherige Evaluationsergebnisse
Die RT-Effektivität ist von Brown& Palincsar(vgl. 1987, im Druck) in mehr als einem Dutzend Einzelstudien überprüft worden. Die Mehrzahl dieser Studien bezieht sich auf die skizzierte Textlern-Variante und wurde mit Kindern der 7. und 8. Klassenstufe durchgeführt, die zwar nicht als Lernbehinderte diagnostiziert waren, jedoch in der Regel eine unterdurchschnittliche Intelligenz(IQs meist zwischen 70 und 90) und einen extremen Leistungsrückstand im Leseverständnis(2—3 Schuljahre bei einem standardisierten Schulleistungstest) aufwiesen. Während ursprünglich das RT als Individualtraining durchgeführt wurde, hat sich in späteren Studien immer mehr die Kleingruppenvariante durchgesetzt, ohne daß dies zu Lasten der Effektivität ging. Eindrucksvolle Demonstrationen der RT-Effektivität sind vor allem hinsichtlich der erzielten Verhaltensänderungen, der Überlegenheit des RT gegenüber anderen Maßnahmen zur Förderung des Textlernens und der Übertragbarkeit der Trainerfunktion auf Lehrer und sogar Schulkameraden vorgelegt worden.
Verhaltensänderungen. Trainingsbegleitende Verhaltensaufzeichnungen in mehreren Studien(z.B. Palincsar& Brown,
7
|