Phonemische Bewußtheit— ein Ansatz am Ende?
Diskussion einer angenommenen Leselernvoraussetzung unter dem Gesichtspunkt der Prävention von LRS
Von Petra Bee-Göttsche
In der Präventionsforschung zur LRS wird große Hoffnung auf den Ansatz ‚„„Phonemische Bewußtheit“ gesetzt. Die Förderung phonemischer Bewußtheit im Vorschulalter wird hier als Möglichkeit diskutiert, das Risiko späterer Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb zu vermindern. Teil I dieses Artikels setzt sich mit der Kritik am Ansatz ‚„„‚Phonemische Bewußtheit‘“ auseinander. Es wird gezeigt, daß die Kritik sich in erster Linie auf methodische Mängel der Untersuchungen beschränkt. Sie übersieht dabei Schwächen im zugrundeliegenden Theoriekonzept. TeilII ist der Versuch einer Neukonzeption. Ein Fortschritt wird vor allem im Wechsel der Definition von phonemischer Bewußtheit als„der“ Leselernbedingung zu der einer Lesestrategie erwartet.
“Phonological awareness” seems to be important in preventing dyslexia. Promoting“phonological awareness” in kindergarten is here discussed in terms of reducing problems acquiring written language. The first part of this article reviews the shortcomings of the critique of“phonological awareness”, i,e. most critique is concerning methodological issues and fails to notice theoretical deficits. The second part introduces a new theoretical conceptualization of “phonological awareness”. This is being discussed as an important reading-strategy rather than the prereading skill.
Was muß ein Kind wissen, um Lesenlernen zu können?
Prinzip der alphabetischen Schriftsprache ist die Abbildung der Einzellaute des gesprochenen Wortes durch Buchstaben. Im Deutschen sind es 39 Phoneme, die von nur 30 Buchstaben des Alphabets dargestellt werden(vgl. Jehmlich, 1971). Durch Kombination von wenigen Symbolen werden Tausende von Wörtern aufgebaut. Die Wirtschaftlichkeit hat ihren Preis: der Leseanfänger muß sich, um dieses System nutzen zu können, zunächst dessen bewußt werden, wie und daß sich der Wortklang aus Phonemen aufbaut. Diese Erkenntnis wird als phonemische(auch: phonologische) Bewußtheit bezeichnet. Sie wäre in dem genannten Sinne eine wichtige Leselernvoraussetzung.
Der Erwerb phonemischer Bewußtheit wird einerseits dadurch erschwert, daß ein akustisches Kriterium fehlt, das die
Grenzen zwischen den einzelnen Phonemen markiert. Eine Aufgabe, die bei den Silben z.B. durch den Vokalkern übernommen wird(Liberman, Shankweiler, Liberman, Fowler& Fischer, 1977). Andererseits setzt der tägliche Gebrauch der Sprache nicht automatisch voraus, daß die Sprachstruktur selbst den Kindern bewußt wird(Gleitman& Rozin, 1977). Die„Bewußtheit‘ der Beziehung zwischen Schrift und Sprache muß zu den bemerkenswertesten Entdeckungen der Kindheit gerechnet werden(Ehri, 1979). Die Annahme von phonemischer Bewußtheit als sogenanntem ‚prereadingskill‘ erscheint zunächst plausibel. Es ist kaum vorstellbar, wie Lese- und Schreibanfänger eine große Vielzahl von Wörtern lesen oder schreiben wollten ohne zu wissen, wie die einzelnen Buchstaben zum Lautklang eines Wortes verbunden werden müssen(Phonemsynthese) bzw. wie umgekehrt der Wortklang in Einzellaute analysiert werden kann(Plıonem
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990
analyse). Phonemsynthese und Phonemanalyse sind die wichtigsten Fähigkeiten, aufgrund derer auf phonemische Bewußtheit geschlossen wird(Lewkowicz, 1980). Für beide gibt es viele unterschiedliche Operationalisierungen (s.u.). Ein Beispiel ist das ‚tapping-game‘ (Liberman, 1974), das Phonemanalysefähigkeit messen soll. Die Kinder müssen das zu analysierende Wort nachsprechen und die Zahl seiner Lautsegmente durch das Klopfen mit einem Hammer anzeigen. Umgekehrt hören sie bei einer typischen Syntheseaufgabe(vgl. Helfgott, 1976) die Phonemsegmente eines Wortes einzeln und nacheinander, während der VI parallel dazu Spielmarken legt. Ihre Aufgabe ist es dann, das dazugehörige Wort zu nennen.
Die Beziehung zwischen phonemischer Bewußtheit und dem Lesenlernen wird besonders unter dem Gesichtspunkt der Prävention von späterer Lese-Rechtschreib-Schwäche(LRS) relevant. Wenn
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