Petra Bee-Göttsche*
Phonemische Bewußtheit
A
der Erwerb phonemischer Bewußtheit eine notwendige Bedingung für das Lesenlernen ist, gäbe es die Möglichkeit, über ihre Förderung im Vorschulalter die Wahrscheinlichkeit späterer Leselernprobleme bei Kindern zu reduzieren. Diesen Überlegungen entspringt das in letzter Zeit wachsende Interesse— vor allem in den USA und Skandinavien— an Trainingsprogrammen zur phonemischen Bewußtheit. Zum selben Zeitpunkt tauchen jedoch Zweifel an der Brauchbarkeit des Ansatzes auf, die den Sinn dieser Präventionsmaßnahmen in Frage stellen(Bryant& Goswami, 1987; Golinkoff, 1978; Hulme, 1987; Williams, 1984). Auch in der Bundesrepublik finden sich Untersuchungen zur phonemischen Bewußtheit im Vorschulalter (Mannhaupt& Jansen, 1988; Schmalohr, 1976; Skowronek& Marx, 1988) und die Einsicht in die Notwendigkeit, sie bereits im Vorschulbereich zu fördern (Klicpera& Schachner-Wolfram, 1987). Allerdings gibt es bislang nur wenige Programme(Bee& Dumjahn, 1987) und vielleicht deshalb noch keine so vehement geführte Diskussion dieses Ansatzes.
„Phonemische Bewußtheit— ein Ansatz am Ende?“ lautet die Frage, die im vorliegenden Artikel beantwortet werden soll. Im ersten Teil geschieht dies durch Auseinandersetzung mit der Kritik. Auswahlkriterium der referierten Literatur kann dabei nicht Vollständigkeit sein, sondern grundsätzliche Argumentationsmuster, zuerst Pro dann Contra, sollen dar- und schließlich gegenübergestellt werden. Im zweiten Teil wird die Antwort in einer theoretischen Neukonzeption gesehen, entsprechende Vorschläge werden aus Kritikpunkten am Konzept „Phonemische Bewußtheit‘‘ abgeleitet.
Argumente„Pro“:
Empirische Belege für die Annahme von phonemischer Bewußtheit
als Leselernvoraussetzung
Korrelationsstudien(Querschnittsuntersuchungen) fanden einen positiven Zusammenhang zwischen phonemischer Bewußtheit und der Leseleistung.
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Ein minimaler Beleg für die Annahme, daß phonemische Bewußtheit die Leseleistung beeinflußt, ist zunächst die Demonstration der Tatsache, daß diese beiden Fertigkeiten korrelieren. In zahlreichen Untersuchungen wurde die Leistung von Kindern bei Phonemsyntheseund Phonemanalyseaufgaben gemessen und dann mit Lesetestwerten korreliert. Ergebnisse waren signifikante positive Zusammenhänge(Rosner& Simon, 1971; Liberman et al., 1974; Calfee et al., 1973; Fox& Routh, 1975; Goldstein, 1976; Helfgott, 1976; Zifcak, 1976).
Korrelationsstudien im Längsschnitt zeigten, daß die Fähigkeit zur phonemischen Bewußtheit vor dem Schulbeginn mit der späteren Leseleistung zusammenhängt.
In Längsschnittstudien wird die Messung von phonemischer Bewußtheit vor dem Schuleintritt der Kinder vorgenommen. Sollte sich die Leistung hier vor Beginn des eigentlichen Leseunterrichts als guter Prädiktor für den späteren Erfolg im Lesen erweisen, wäre dies ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung der phonemischen Bewußtheit. Längsschnittstudien konnten einen positiven Zusammen hang zwischen Maßen der phonemischen Bewußtheit und der späteren Leseleistung zeigen.
Helfgott(1976) fand, daß der beste Prädiktor für die Leseleistung in der ersten Klasse die Leistung bei der Phonemanalyse im Kindergartenalter ist. Er stellte Fünfjährigen(n= 103) drei Arten von Lautanalyse- und Lautsynheseaufgaben mit KVK-Konsonant, Vokal, Konsonant)Silben. Die Aufgaben unterschieden sich jeweils hinsichtlich der Art der Phonemteilung der Silben(entweder K-V-K, KV-K oder K-VK). Eine schrittweise Multiple Regression wurde auf die Lesetestwerte(WRAT— ‚word recognition‘) für die 31 Kinder berechnet, die die komplette K-V-K Analyse- und Syntheseaufgabe gelernt hatten und jetzt in der ersten Klasse waren. Die Variablen, die in die Vorhersagegleichung eingingen, waren die Werte in der Segmentierungsaufgabe, beim Wepman-Test(z. n. Helfgott, 1976; phonologische Diskriminierungsaufgaben) und das chronolo
gische Alter. Der erste Prädiktor„Kindergartensynthesewert‘‘ korrelierte zu 0.72 mit dem WRAT-Wert in der ersten Klasse und sagte auf diese Weise 52% der Varianz im Lesetest voraus(p< 0.01).
Die Untersuchung von Share(1984) unterstützt diese Ergebnisse. Mit ungefähr fünf Jahren und drei Monaten, am Ende des Kindergartens(nach einem Jahr Leseunterricht), bearbeiteten die Kinder (n= 543) eine Reihe von Aufgaben, darunter den von Helfgott(1976) verwendeten KVK-Silben-Test und dann wieder am Ende der ersten Klasse. Die höchsten Korrelationen mit der Leseleistung im Kindergarten und in der ersten Klasse erreichte der Phonemanalysetest(r= 0.66 und r= 0.62, p< 0.001). Von den 39(!) Prädiktoren in einer Multiplen Regression erklärte das Ergebnis in der Phonemsegmentierungsaufgabe allein 39% der Leseleistungsvarianz am Schulanfang auf.
Mann und Liberman(1984) untersuchten die Beziehung zwischen phonemischer Bewußtheit im Kindergartenalter und der Leseleistung ein Jahr später in der Schule(n= 62). Erstere wurde mit einer Silbenklopfaufgabe(vgl. Liberman. et al., 1974), die Leseleistung mit Hilfe eines Summenwertes der ‚word attack‘ und ‚word recognition‘ Subtests des Woodcook und des Lehrerurteils erfaßt. Von den guten Lesern(nach Lehrerurteil) bewältigten 85% im Kindergartenalter die Silbenzählaufgabe. Dies traf nur für 56% der Leser im mittleren und nur für 17% im unteren Leistungsbereich zu. Die Korrelation zwischen der Leseleistung und der Leistung bei der Silbenzählaufgabe lag bei r=0.40(p< 0.01).
Förderung phonemischer Bewußtheit führt zur Steigerung der Leseleistung
Auf die Existenz einer kausalen Beziehung ist dann zu schließen, wenn die Korrektur eines Defizits in phonemischer Bewußtheit zur Verbesserung der Leseleistung(oder Vermeidung von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten) führt.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 199