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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Petra Bee-Göttsche>

Phonemische Bewußtheit

Folgende Trainingsexperimente fanden diesen Effekt phonemischer Bewußt­heit:

Wallach& Wallach(1976). In dieser Trainingsstudie lernten die Kinder das Erkennen des Anfangslauts, das Lautie­ren(Phonemsegmentierung), Buchsta­ben-Laut-Korrespondenzen und schließ­lich ganze Wörter zu lesen. 31 von 36 Drittkläßlern mit Leseproblemen hatten nach einem Jahr das Lesen gelernt, wäh­rend die anderen fünf Schüler nur klei­nere Fortschritte machten.

Williams(1979, 1980). Williams brachte in ihremABDs of Reading lernbehin­derten Kindern im Alter zwischen sie­ben und elf(n= 179) erst die Phonem­analyse, dann die-synthese bei. Zusätz­lich lernten die Schüler Buchstaben-Laut­Korrespondenzen kennen und schließ­lich Wörter aus den auf diese Weise be­kannten Buchstaben zu lesen. Die Kin­der der Lerngruppe waren nach einem Schuljahr Förderung in der Lage, unbe­kannte Kombinationen von Buchstaben zu lesen. Sie hatten damit eine generelle Lesestrategie erworben. Vorher-Nachher­Unterschiede bei der Leistung in Aufga­ben, wie sie auch im Training geübt wor­den waren, wurden berechnet. Die Ko­varianzanalyse mit den Vortestwerten als Kovariate zeigte die Überlegenheit der Experimentalgruppe gegenüber der Kontrollgruppe in allen Tests außer der Anfangslautisolierung im Posttest. Bradley& Bryant(1983). Sie teilten 65 sechsjährige Kinder in vier parallelisierte Gruppen auf(kontrolliert wurden: Al­ter, verbale Intelligenz und Werte bei ei­nem Lautkategorisierungsvortest). Die erste Gruppe(n= 13) erhielt über einen Zeitraum von zwei Jahren Unterricht in Lautkategorisierung(Vergleich der Ein­zellaute in verschiedenen Wörtern). Die zweite(n= 13) wurde ein Jahr lang in Lautkategorisierung und während des zweiten Jahres sowohl in Laut-Kategori­sierung als auch in die Beziehung zwi­schen Lauten und Buchstaben unterwie­sen. Eine dritte(Kontroll-) Gruppe(n= 26) lernte, dieselben Wörter semantisch zu kategorisieren. Bei der vierten(n= 13) handelte es sich um eine ‚unseen­control-Gruppe. Ein Jahr später erhiel­ten die Kinder standardisierte Lese­

und Schreibtests. Kovarianzanalysen mit dem IQ und dem Alter als Kovariate brachten folgende Ergebnisse: Die erste Gruppe unterschied sich nicht signifi­kant von der dritten Gruppe, obwohl sie ihr drei bis vier Monate bei allen Tests voraus war, aber dafür signifikant von der vierten Gruppe. Die zweite Gruppe erwies sich der dritten und vierten Grup­pe(Lesen p<0.05 und Schreiben p< 0.01) und der zweiten Experimental­gruppe im Schreiben(p< 0.05) signifi­kant überlegen.

Zusammenfassung: Für die Annahme von phonemischer Bewußtheit als Lese­lernvoraussetzung sprechen:

sign. Korrelationen zwischen phone­mischer Bewußtheit und der Leselei­stung in Quer-und Längsschnittunter­suchungen.

Trainingsprogramme, die zeigen, daß Förderung phonemischer Bewußtheit zu einer Steigerung der Leseleistung führt.

Argumente Contra:

Die Aufklärung des kausalen Zusammenhangs zwischen phonemischer Bewußtheit und der Leseleistung

steht immer noch aus

Ergebnisse aus Korrelationsstudien sa­gen nichts über die Richtung eines Zu­sammenhangs aus.

Nach Meinung der Kritiker wie Bryant & Goswami(1987) ist an allen oben be­richteten Korrelationsstudien ihr gerin­ger Beitrag zur Aufklärung des Ursache­Wirkungs-Zusammenhangs(vgl. auch Hulme, 1987) zu bemängeln. Argumen­tiert wird:

1) Kausale Zusammenhänge können grundsätzlich durch korrelative Be­funde nicht gesichert werden.

2) Selbst wenn bei Längsschnittstudien Defizite im Vortest gefunden werden, könnten diese für die spätere Lese­schwäche vollkommen irrelevant sein.

Positive Ergebnisse der Trainingsexperi­mente sind allein Artefakte des Untersu­chungsdesigns.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990

Trainingsprogramme, die vorgeben, pho­nemische Bewußtheit zu trainieren, bil­den tatsächlich ganz andere Fähigkeiten aus. Charakteristisch für viele Trainings­programme(Skjelfjord, 1976; Olofsson & Lundberg, 1983; Williams, 1979, 1980) ist, daß sie mit dem Ziel der För­derung phonemischer Bewußtheit gleich­zeitig noch andere Aufgaben zur Laut­synthese und analyse hinzunehmen. So wird u.a. versucht, die Kinder auf die sehr schwierigen letztgenannten Aufga­ben vorzubereiten, indem zunächst mit leichteren Aufgaben wie Silbenklopfen oder Satz- in- Wort-Segmentierung ge­arbeitet wird. Oft werden zur Motiva­tionssteigerung noch zusätzlich Märchen, Geschichten oder Spiele in die Förder­programme eingebunden. Williams (1984) kritisert an diesem Vorgehen, daß so nicht zu klären ist, ob der Erfolg tatsächlich auf die Förderung phonemi­scher Bewußtheit oder eher auf die Ef­fekte der anderen Komponenten des Programms zurückzuführen ist.

Der Einsatz von Null-Treatment-Kon­trollgruppen gaukelt Trainingseffekte vor. Bryant& Goswami(1987) weisen auf folgendes Problem hin: Training in pho­nemischer Bewußtheit bedeutet gleich­zeitig ein Mehr an sozialem Kontakt mit einem Erwachsenen, ein besonderes Maß an Zuwendung und u.U, gesteigerte An­regung durch den Umgang mit Bildmate­rial. Um nur die Effekte des Trainings von phonemischer Bewußtheit auf die Leseleistung abschätzen zu können, müß­ten alle diese Einflüsse auch in der Kon­trollgruppe gegeben sein. Sogenannte ‚unseen control-groups, Kontrollgrup­pen, die gar kein Treatment erfahren, sind ungeeignet. Da in keiner der oben genannten Trainingsstudien die Steige­rung der Anregung durch eine entspre­chende Kontrollgruppe kontrolliert wur­de, gilt nicht auszuschließen, daß ihre Erfolge auf diesen Faktor zurückzufüh­ren sind.

Die Abhängige und die Unabhängige Va­riable sind nicht strikt voneinander ge­trennt. Bryant& Goswami(1987) kriti­sieren, daß viele Trainingsexperimente mit Buchstaben arbeiten und damit be­reits Elemente des Leseunterrichts vor­wegnehmen. Phonemische Bewußtheit

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