Petra Bee-Göttsche*
Phonemische Bewußtheit
würde auf diese Weise zusammen mit dem gefördert, was schließlich als Resultat gemessen werden sollte, nämlich mit der AV„Lesen“. Auch Golinkoff(1978) spricht sich gegen die Verwendung von Graphemen aus. Ihre Bedenken betreffen die zusätzliche Lernerfahrung durch den Umgang mit Schriftmaterial, von der die Kontrollgruppen ausgeschlossen sind.
Zu den Trainingsprogrammen, die mit Buchstaben gearbeitet haben, gehören die Arbeiten von Wallach& Wallach (1976) und Bradley& Bryant(1983). In beiden Fällen fehlte eine Gruppe, die die zusätzliche Lernerfahrung mit Schrift kontrolliert und damit als Ursache für die Verbesserung der Leseleistung ausge schlossen hätte.
Selbst wenn ein Trainingsprogramm in phonemischer Bewußtheit zu Erfolgen beim Lesen führt, heißt dies noch nicht, daß der Erwerb von phonemischer Bewußtheit für das Lesenlernen auch in natura notwendig wäre. Ein grundsätzlicher Vorbehalt gegenüber den Ergebnissen aus Trainingsexperimenten ist, daß die Unabhängigen Variablen künstlich hergestellt werden(Bryant& Goswami, 1987). Den mit ihrer Hilfe aufgedeckten Ursache-Wirkungszusammenhänge fehlten u.U. die Entsprechungen in der Realität. Das heißt, auf die Förderung phonemischer Bewußtheit bezogen, selbst wenn sie zu einer Verbesserung der Leseleistung führte, ist damit nicht ausgeschlossen, daß normalerweise die Ausbildung einer ganz anderen Fähigkeit diesen Effekt hat. Diese Argumentation spricht weniger gegen die Möglichkeit der Prävention von LRS durch dieses Training als gegen die Annahme eines unter natürlichen Bedingungen bestehenden Kausalzusammenhangs.
Zsf.: Gegen die Annahme von phonemischer Bewußtheit als Leselernvoraussetzung werden folgende Argumente aufgeführt:
— Korrelative Befunde sagen nichts über die Richtung des Kausalzusammenhangs aus.
— Die Erfolge der Förderung von phonemischer Bewußtheit hinsichtlich einer Verbesserung der Leseleistung
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sind anzuzweifeln, da es nicht gelungen ist ,andere Komponenten des Programms als Ursachenfaktor auszuschließen, wie: das besondere Maß an Zuwendung und Anregung, das die Fördergruppe erfährt, die Verwendung von Schriftmaterial oder anderen Aufgaben außer Lautsynthese und«analyse.
— Trainingsexperimente können nicht
zeigen, daß phonemische Bewußtheit auch in natura die Rolle einer Leselernvoraussetzung zukommt.
Die Kritiker ziehen für die Korrelation zwischen phonemischer Bewußtheit und der Leseleistung andere Erklärungen heran.
Alternative Erklärungen für die gefundenen Korrelationen zwischen phonemischer Bewußtheit und der Leseleistung
Nicht phonemische Bewußtheit ist die notwendige Voraussetzung für das Lesenlernen, sondern der umgekehrte Fall ist zutreffend.
Eine Möglichkeit, die Korrelation zwischen Leseleistung und phonemischer Bewußtheit zu erklären ist, daß sich phonemische Bewußtheit überhaupt erst durch die Lernerfahrung des Leseunterrichts entwickelt(Hulme, 1987). Da schlechte Leser naturgemäß im Vergleich zu guten Lesern weniger von diesem Unterricht profitiert haben, folgt daraus, daß ihre Leistung bei der Phonemanalyse und Phonemsynthese entsprechend geringer sein wird.
Diese Kritik relativiert die Ergebnisse aus Untersuchungen, die_leserechtschreibschwache Leser mit normalen Lesern des gleichen Alters verglichen haben(Calfee et al., 1973; Pratt& Brady, 1988) und dabei Unterschiede in der Leistung bei den Aufgaben mit Phonemen fanden.
Als Beleg für die Annahme, daß sich phonemische Bewußtheit erst im Rahmen des Leseunterrichts entwickelt, wird die Studie von Morais et al.(1979) zitiert. Morais et al.(1979) verglichen eine Gruppe von Analphabeten(n= 30)
HEILPÄDAGOGISCHE
mit anderen Personen(n= 30), die erst als Erwachsene das Lesen in Alphabetisierungs-Programmen gelernt hatten. Die Phonemanalyse-Aufgaben, die die Vpn bearbeiteten, waren: a) Addition eines Einzellautes zu einem Wort, b) Subtraktion eines Einzellautes aus dem entweder Real- oder Nonsense-Wort. Wie erwartet, waren die Analphabeten den Alphabeten bei allen Aufgaben unterlegen (Signifikanztests fehlen). Ihr mittlerer Prozentsatz an richtigen Antworten bei der Additionsaufgabe mit realen Wörtern erreichte aber immerhin 46%, bei der Subtraktionsaufgabe 26%.
Weitaus niedriger war ihre Leistung bei Nonsense-Wörtern(19%). Da die Autoren davon ausgehen, daß nur die Aufgaben mit Nonsense-Wörtern phonemische Bewußtheit voraussetzen, folgerten sie hieraus, daß sich die phonemische Bewußtheit erst aufgrund des Leseunterrichts entwickelt.
Die Korrelation zwischen phonemischer Bewußtheit und der Leseleistung wird durch den Faktor„Intelligenz“ verursacht.
Eine weitere Erklärung für den Zusammenhang zwischen phonemischer Bewußtheit und der Leseleistung ist die Annahme eines„dritten Faktors“ als Ursache dieser Korrelation. Eine solche Einflußvariable könnte sowohl die Leseleistung wie auch die Leistung bei Aufgaben mit Phonemen in die gleiche Richtung lenken. Würden dann Unterschiede zwischen guten und schlechten Lesern entdeckt, könnte es sich damit um Fähigkeiten handeln, die für den Leselernprozeß irrelevant, aber Indikatoren dieses dritten Faktors sind. Als solcher Einflußfaktor wird von Bryant& Goswami (1987) die Intelligenz in die Diskussion gebracht. Wenn Calfee, Lindamood& Lindamood(1973), Liberman, Shankweiler, Fisher& Carter(1974) oder Fox & Routh(1975) eine enge Beziehung zwischen der Leistung bei einer Phonemanalyseaufgabe und der Leistung im Lesen finden, wäre damit nicht ausgeschlossen, daß dieses Ergebnis auf ihr Versäumnis zurückgeht, die Intelligenz auszupartialisieren.
Zsf.: Die Bedeutung phonemischer Bewußtheit als Leselernvoraussetzung wird
FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990