Petra Bee-Göttsche*
Phonemische Bewußtheit
in Frage gestellt. Es wird angenommen,
— daß sich phonemische Bewußtheit erst im Laufe des Leseunterrichts ausbildet.
— daß die gefundenen Korrelationen auf den dritten Faktor„Intelligenz‘‘ zurückgehen.
Es schließt sich eine Stellungnahme zu den einzelnen Kritikpunkten und der Versuch ihrer Bewertung an.
Zum Vorwurf des mangelnden Aussage werts der Ergebnisse. Korrelationsstudien intendieren nicht, kausale Zusammenhänge zu erklären. Die von der Kritik angesprochenen Korrelationsstudien sind in der Regel dazu angelegt, vorgefundene Zusammenhänge zu beschreiben. Voraussetzung dazu ist, daß hier eben kein Eingriff in sog. natürliche Zusammenhänge durch die Manipulation einer UV stattfindet. Sie sind weder dazu geeignet, noch wird von den berichteten Korrelationsstudien der Anspruch erhoben, kausale Zusammenhänge aufzuklären(vgl. Fox& Routh, 1976).
Trainingsstudien: Über den Unterschied zwischen Laborexperimenten und Programmen. Wenn die Kritik, wie in diesem Fall, die Kontrolle aller denkbaren „dritten“ Einflußfaktoren in Trainingsprogrammen zur phonemischen Bewußtheit zur Bedingung macht, verlangt sie Unmögliches. Theoriegeleitete Laborexperimente wären hierfür eher geeignet. Sie bieten sich als mögliche und notwendige Ergänzung zu Trainingsprogrammen an, da sie den Effekt möglicher dritter Faktoren zeigen könnten.
Lesen ist mehr als Buchstabenkenntnis. (Zum Vorwurf, daß die Abhängige und die Unabhängige Variable in vielen Trainingsprogrammen nicht strikt voneinander getrennt sind). Es wäre eine unzulässige Vereinfachung, wollte man das Lesen auf die Fähigkeit reduzieren, zu jedem Buchstaben den passenden Einzellaut zu nennen. Deshalb erscheint es schwer nachvollziehbar, wenn Bryant& Goswami(1987) die Verwendung von Buchstaben bereits als Vorwegnahme des Leseunterrichts betrachten und mit der AV„Leseleistung‘“ gleichsetzen.
Gleichzeitig ist ihre Kritik in der Forderung nach Trennung zwischen phonemischer Bewußtheit und der Fähigkeit, Buchstaben-Laut-Korrespondenzen zu generieren, berechtigt. Die Ergebnisse von Bradley& Bryant(1983) machen deutlich, daß die Hinzunahme des Buchstabentrainings zum Training in phonemischer Bewußtheit einen zusätzlichen Gewinn für die Schriftsprachleistung bringt(wenn auch nur signifikant beim Schreiben). Beide Faktoren sind nicht auf ein und dieselbe Sache reduzierbar und dürfen folgerichtig nicht als Konglomerat behandelt bzw. untersucht werden.
1. Versuch einer Bewertung: Sind die empirischen Belege für phonemische Bewußtheit als Leselernvoraussetzung unzureichend?
Die Kritik beschränkt sich in der Hauptsache darauf, Experimenten im gleichen Atemzug vorzuwerfen, daß sie nur erklären, nicht beschreiben, in dem sie an Korrelationsstudien bemängelt, daß sie nur beschreiben und nicht erklären. Längsschnittstudien oder Vergleiche zwischen guten und schlechten Lesern bieten Beschreibungen natürlicher Zusammenhänge an. Experiment wie Studie ergänzen sich in diesem Sinne und erfahren gerade in ihrer Kombination Interpretationswert. Greift sich die Kritik— wie in diesem Fall— jeweils ein Design heraus, so übersieht sie den Erkenntnisgewinn durch die Addition unterschiedlicher Verfahren.
Zur Frage: ist die Logik der Alternativerklärungen von Kritikern des Ansatzes nachvollziehbar?
Gegen die Annahme von schlechter Leseleistung als Ursache der mangelnden Ausbildung phonemischer Bewußtheit spricht: Auch wenn die Leseleistung kontrolliert ist, unterscheiden sich gute von schlechten Lesern in ihrer Fähigkeit zur phonemischen Bewußtheit. Als Ergänzung zur Gegenüberstellung von guten und schlechten Lesern des gleichen Alters bietet sich der Vergleich schlechter Leser und normallesender Kinder
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990
mit gleicher Leseleistung aber unterschiedlichem Alter an. Wenn die leseschwachen Kinder bei einer Aufgabe, die phonemische Bewußtheit verlangt, im Vergleich zu dieser Gruppe schlechter abschneiden, ist ihre schlechtere Leseleistung als Ursache dafür ausgeschlossen.
Ein Beispiel ist die Untersuchung von Bradley& Bryant(1978). Sie verglichen schlechte Leser mit jüngeren Kindern im gleichen Lesealter, beide mit normaler Intelligenz. Die Messung der phonemischen Bewußtheit bestand darin, daß die Kinder unter vier Wörtern das Wort herausfinden, was sich von den anderen nur durch den Anfangs-, Mittel- oder Endlaut unterscheidet. Wie eine Varianzanalyse zeigte, hatten die schlechten Leser damit signifikant mehr Schwierigkeiten als diejenigen Kinder mit ihrem Alter entsprechender Leseleistung(p< 0.001). Die Morais et al.(1979) Studie ist als Beweis, daß der Leseunterricht erst phonemische Bewußtheit ausbildet, ungeeignet. Aus zwei Gründen hält die Untersuchung nicht das, wofür sie zitiert wird. Erstens, die alternative Interpretation, phonemische Bewußtheit als notwendige Bedingung für das Lesenlernen, kann durch die Ergebnisse dieser Korrelationsstudie nicht ausgeschlossen werden. Die schlechtere Leistung der Analphabeten bei den Aufgaben, die phonemische Bewußtheit verlangen, kann sowohl Ursache wie Wirkung der Tatsache sein, daß sie nicht lesen gelernt haben. Um zu demonstrieren, daß im allgemeinen phonemische Bewußtheit keine notwendige Bedingung für das Lesen ist, müßte gezeigt werden, daß der Schriftspracherwerb des normalen Anfangslesers auch ohne phonemische Bewußtheit stattfindet.
Zweitens, der Leselernprozeß sollte an Kindern im normalen Leseanfangsalter und nicht an Erwachsenen untersucht werden(Bosch, 1937). Analphabeten mußten im Laufe der Zeit bereits Strategien entwickeln, um fehlende Schriftsprachkenntnisse zu kompensieren. Dazu könnte die Fähigkeit gehören, häufig vorkommende Wörter allein aufgrund bestimmter visueller Merkmale zu erkennen— was die Bestätigung in ihrer
25