Petra Bee-Göttsche
» Phonemische Bewußtheit
guten Leistung bei Real-Wörtern findet (vgl. Morais et al., 1979).
Die positive Beziehung zwischen phonemischer Bewußtheit und dem Lesenlernen läßt sich nicht durch einen dritten Faktor„Intelligenz“ erklären. Für einen vom IQ unabhängigen Beitrag der phonemischen Bewußtheit zur Leseleistung sprechen eine Reihe von Untersuchungen(vgl. auch Moch, 1989):
Rosner& Simon(1971) Korrelierten den Stanford Achievement Test(Language arts, Messung der Leseleistung) mit dem Auditory Analysis Test(AAT, Messung der phonemischen Bewußtheit). Der IQ wurde auspartialisiert. Für die Klassen zwei bis fünf erreichten die Korrelationen Werte von 0.50 oder besser(p<0.01). Auf Klassenstufe sechs erst wurde der IQ zum entscheidenderen Faktor.
Nach Goldstein(1976) konnte die Segmentierungsfähigkeit den Anfangsleseerfolg voraussagen, und dies unabhängig vom IQ(r=0.51 beim Lesen einzelner Wörter und r=0.69 beim Lesen von Wörtern innerhalb eines Textes).
Pratt& Brady(1988) verglichen gute und schlechte Leser der dritten Klasse. Sie fanden keinen Effekt des IQ’s— weder des verbalen noch des sprachfreien (CPM)— auf die beiden Messungen der phonemischen Bewußtheit(LAC: Lindamood Auditory Conceptualization Test und AAT: s.0.).
2. Versuch einer Bewertung: Sind die alternativen Erklärungen für den Zusammenhang zwischen phonemischer Bewußtheit und der Leseleistung schlüssig?
Die Argumentation ist in folgenden Punkten nicht nachvollziehbar:
1) Der umgekehrte Kausalzusammen hang„aus dem Lesen folgt erst die phonemische Bewußtheit‘‘ kann nicht belegt werden.
Gegen ihn spricht:
— Auch bei gleicher Leseleistung unterscheiden sich gute und schlechte Leser unterschiedlichen Alters in ihrer
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Fähigkeit zur phonemischen Bewußtheit.
— Es fehlen Belege dafür, daß der typische Anfangsleser ohne phonemische Bewußtheit lesen lernt.
2) Die Annahme des IQs als dritten Faktor konnte nicht bestätigt werden. Theoretische Konsequenzen: Kritik am Forschungsansatz ‚„Phonemische Bewußtheit‘“ muß in Richtung einer Verbesserung des Theoriekonzepts zielen. Die angeführten Vorbehalte gegenüber phonemischer Bewußtheit als Leselernvoraussetzung, die sich in erster Linie gegen das Design der Untersuchungen und die aus ihnen abgeleiteten Schlüsse richten, erscheinen unhaltbar. Die berechtigte Forderung von Bradley& Bryant(1983) nach einer sauberen Trennung von phonemischer Bewußtheit vom Erwerb von Buchstaben-Laut-Korrespondenzen weist. eher auf Defizite hinsichtlich der Einbettung des Ansatzes in ein Leselernmodell hin. Hier müßte die Definition von phonemischer Bewußtheit in Abgrenzung von anderen Teilfertigkeiten erfolgen, die beim Leselernprozeß eine Rolle spielen. Auch die eigene Kritik bezieht sich in erster Linie auf Probleme im Theoriekonzept.
Teil 2: Phonemische Bewußtheit— ein Ansatz am Ende?
Vorschläge für eine
theoretische Umorientierung
Bislang konnte phonemische Bewußtheit bei Kindergartenkindern oder Erstkläßlern nur, wenn sie durch einen Testtrainings-Ansatz gemessen wurde(vgl. Fox& Routh, 1975; Helfgott, 1976; Liberman, 1973, 1974; Mann& Liberman, 1984; Zifcak, 1976), ihre Beziehung zum Lesen demonstrieren.— Zweifellos eine Tatsache, der bis heute keine Beachtung geschenkt wurde.— Dem Wissen um sinnvolle Arten ihrer Vermittlung kommt daher ein hoher Stellenwert zu. Um effektive Planung von Trainingsprogramme zur phonemischen Bewußtheit möglich und Ergebnisse von Untersuchungen überhaupt miteinander
HEILPÄDAGOGISCHE
vergleichbar zu machen, ist eine Systematisierung der Faktoren Bedingung, die die Schwierigkeit der in ihnen verwendeten Aufgaben beeinflussen. Folgende Annahmen können bisher gemacht werden:
Die Leistung bei der Phonem- und Silbensegmentierung ist vom Alter der Versuchspersonen abhängig.
Die Silben- und Phonemanalysefähigkeit wächst mit dem Alter(Liberman et al., 1974; Fox& Routh, 1975). Für Fünfjährige ist die Segmentierung eines Wortes in seine Einzellaute noch zu schwierig, zur gleichen Zeit bewältigen sie diese Aufgabe mit Silben aber bereits problemlos. Würde ihre Phonemanalysefähigkeit zu diesem Zeitpunkt erfaßt, so wäre aufgrund des Kellereffektes kein signifikanter Zusammenhang mit der späteren Leseleistung zu erwarten. Im Alter von ca. sechs Jahren ist die Phonemsegmentierung dann eine trennscharfe Aufgabe und die Silbensegmentierung bereits zu einfach geworden sein. Die gemessene Beziehung zwischen phonemischer Bewußtheit und der Leseleistung hängt damit jeweils vom Alter der Vpn ab(vgl. Beech, 1988).
Die Leistung der Vpn ist von der Art der Operationalisierung der phonemischen Bewußtheit abhängig.
Die Variation unter den Operationalisie rungen von phonemischer Bewußtheit ist groß. Zu ihnen gehören: Reimaufgaben(Calfee ‚Chapman& Venezky, 1972), das Herausfinden des Wortes unter zweien, das mit einem bestimmten Laut anfängt(Wallach, Wallach, Dozier& Kaplan, 1977), das Ersetzen eines Lautes im Wort durch einen anderen(Bruce, 1964), oder das Abbilden der Einzellaute eines Wortes durch das Klopfen auf den Tisch oder Legen von Spiel-Chips(Elkonin, 1964, Rosner, 1969; Holden& MacGinitie, 1972; Liberman et al., 1974).
Einige dieser Aufgaben sind für viele Kinder im Vorschulalter, Erst- und einige Zweitkläßler unlösbar. Ein Beispiel ist die Phonemauslassungsaufgabe. Sie verlangt, einen(Anfangs-, Mittel- oder End-) Laut aus einem Wort wegzulassen und nur den Rest des Wortes zu nennen. Kinder im Vorschulalter waren damit überfordert(Bruce, 1964; Rosner& Si
FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990