Maria Ippen& Ursula Hebborn-Brass*
Spezifische Indikation von Psychomotorischer Übungsbehandlung
gen zu behandeln(...), um die Normalmotorik wiederherzustellen‘“(Bielefeld, S. 29, 1983). Jedoch fehlt auch hier ein einheitliches Konzept, denn Schilling (1979) vertritt selbst unter dem Begriff Motopädagogik das Konzept der Persönlichkeitsbildung über motorische Lernprozesse.
Die so beschriebenen, in ihren Ansprüchen divergierenden Zielsetzungen weisen darauf hin, daß es an Indikationsund Wirksamkeitsanalysen mangelt. Z.B. ist selten empirisch und kritisch überprüft worden, ob am Zustandekommen der von den Vertretern eines ganzheitlichen Konzeptes postulierten generalisierenden Effekte der Förderprogramme evtl. noch andere Faktoren eine Rolle spielten, wie z.B. die vermehrte zeitliche Zuwendung und engagiertes Erzieherverhalten. Eine aus neuerer Zeit stammende Untersuchung konnte eine generelle positive Wirkung motorischer Fördermaßnahmen auf nicht-motorische Persönlichkeitsbereiche nicht nachweisen(Krombholz, 1985): Wenn sich generelle Effekte nicht nachweisen lassen, schließt sich die Frage nach gezielten Untersuchungen zur Indikation von Psychomotorischer Übungsbehandlung an.
Fragestellung der Untersuchung
Der vorliegende Artikel möchte einen Beitrag zur Indikation von Psychomotorischer Übungsbehandlung als einem bewegungsorientierten Verfahren bei verhaltensauffälligen Kindern leisten. Im Rahmen eines Praxisforschungsprojektes zur„Evaluation und Vorhersage des Behandlungserfolges bei psychisch gestörten Kindern eines heilpädagogisch-psychotherapeutischen Heimes‘“! wurde auch die Psychomotorische Übungsbehandlung(= PU) untersucht, die sich als das am häufigsten angewendete heilpädagogische Behandlungsverfahren im Kinderheim„Die gute Hand“ in Kürten-Bies
1 Das Praxisforschungsprojekt wird gefördert durch die Stiftung Deutsche Jugendmarke und durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit.
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feld erwies. Sie wird hier eingesetzt zur Förderung von Gesamtkoordination, Bewegungswahrnehmung(Kenntnis des eigenen Körpers und seiner Bewegungen, Haltung, Lateralität, Balance), Koordination von Auge-Hand, Raumwahrnehmung, zeitlicher Wahrnehmung und Strukturierung, und nicht zuletzt auch Entspannung. Darüber hinausgehende Ziele sind: die Vermittlung von fehlenden Grunderfahrungen wie Vertrauen und Erfolgserlebnissen sowie Förderung des Spiel- und Sozialverhaltens.
Würde ein ausschließlich ganzheitliches Behandlungskonzept ohne differenzierte Indikation verfolgt, müßte sich die Psychomotorische Übungsbehandlung zufällig über alle Kinder der unterschiedlichsten Störungen verteilen. Handelt es sich hingegen um ausgewählte Kinder, so müßte sich dies nachweisen lassen.
In der Fachliteratur scheint weitgehende Übereinstimmung darin zu herrschen, daß eine Psychomotorische Übungsbehandlung bei Reifungsproblemen indiziert sei(vgl. Eisert, 1988). Im vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, inwieweit hier im Heim eine theoriegeleitete Indikation von Psychomotorischer Übungsbehandlung gestellt wird. Reifungsprobleme werden operationalisiert als(1) entwicklungsabhängige und autistische Störungen,(2) Teilleistungsschwäche und(3) Störungen des Zentralnervensystems.
Unsere Untersuchung geht also von der Hypothese aus, daß Kinder mit diesen reifungsspezifischen Störungen häufiger einer psychomotorischen Übungsbehandlung unterzogen werden als Kinder ohne solche Auffälligkeiten.
Methodik
In die Untersuchung wurden alle seit Gründung des Kinderdorfes 1968 bis zum Stichtag(31.7.1987) aus dem Kinderdorf entlassenen Kinder(n= 238) einbezogen, davon 58 Mädchen und 180 Jungen. Das Geschlechterverhältnis beträgt etwa 1:3. Das Aufnahmealter variiert zwischen 4;9 und 13;6 Jahren. Ausführliche Beschreibungen der Klientel finden sich bei Hebborn-Brass& Hollän
HEILPÄDAGOGISCHE
der(1987). Über die Behandlungsvorerfahrungen der untersuchten Kinder referiert Rickert(1987).
Die Störungen der Kinder wurden mittels eines klinisch-psychiatrischen Klassifikationsschemas erfaßt(„Multiaxiales Klassifikationsschema für psychiatrische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter“ nach Rutter, Shaffer& Sturge in der deutschen Bearbeitung von Remschmidt, Schmidt& Klicpera, 1977, eine Weiterentwicklung der 9. Revision des„International Classification of Diseases‘“-Systems(ICD)). Auf fünf Achsen werden das klinisch-psychiatrische Störungsbild, Teilleistungsschwächen, Intelligenz, körperliche Erkrankungen sowie psychosoziale Belastungsfaktoren der Kinder erfaßt. Die klinisch-psychiatrischen Störungen auf MAS-Achse 1 wurden in vier Syndromgruppen zusammen gefaßt. Diese Gruppierung basiert im wesentlichen auf allgemein in der Literatur beschriebenen Erkenntnissen bez. der Prognose der Störungen.
In Gruppel fallen neurotische und emotionale Störungen, Anpassungsreaktionen und psychische Störungen in Verbindung mit anderweitig klassifizierten Erkrankungen(MAS 300, 309, 313 und 316). Gruppe 2 umfaßt entwicklungsabhängige Störungen(monosymptomatische Störungen, hyperkinetische Syndrome und spezifische Störungen nach Hirnschädigungen)(MAS 307, 310, 314). Der Gruppe 3 werden dissoziale Störungen zugeordnet(MAS 312). In Gruppe 4 findet man die autistischen Störungen(MAS 299 und 301.2).
Auf MAS-Achse 2 wurden Teilleistungsschwächen diagnostiziert. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde die MASDefinition präzisiert. Teilleistungsschwächen werden nun als vom allgemeinen intellektuellen Niveau bedeutsam abweichende Leistungen von Teilfunktionen (z.B. von Wahrnehmung, Sprache, Motorik) definiert.
Auf der MAS-Achse 4 wurden körperliche Störungen erfaßt. Für die Fragestellung dieses Artikels interessierte besonders die Variable„Störungen des Zentralnervensystems(ZNS)“. Sie umfaßt neurologische Anzeichen einer Hirnfunktionsstörung und/oder generalisierte
FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990